Denkmäler – Erinnerung und Ideologie
Experte Thomas Drachenberg über den heutigen Umgang mit sowjetischen Kriegsdenkmälern in Deutschland – auch angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Herr Professor Drachenberg, in Ostdeutschland und in Berlin gibt es viele Denkmäler und Gedenkstätten aus der DDR-Zeit, die an den Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland erinnern und die angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine in die Diskussion geraten sind. Was ist ihre besondere Bedeutung?
Die Gedenkorte spiegeln die ideologische Sicht der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) wider. Sie preisen die heroischen Soldaten der Roten Armee. Die Erinnerungen vieler Familien an Vergewaltigungen und Plünderungen kamen nicht vor. Ihr Bau wurde nach dem Zweiten Weltkrieg entweder von der Sowjetunion direkt oder von der DDR in Auftrag gegeben. Sie stehen heute zum großen Teil wegen ihres städtebaulichen, künstlerischen und ideologiegeschichtlichen Wertes unter Denkmalschutz. Die Bundesrepublik hat sich im Einigungsvertrag von 1990 dazu verpflichtet, diese Gedenkorte zu pflegen. Das gilt ohne zeitliche Begrenzung und für sämtliche Orte – sowohl für bekannte Anlagen wie das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow, wo tausende Sowjetsoldaten begraben wurden, für unbekanntere Gedenkstätten wie in Baruth in Brandenburg bis hin zu kleinen Gedenksteinen im ländlichen Raum. Die finanziellen Mittel für die Pflege stammen aus unterschiedlichen Quellen: vom Bund, von den Ländern, Kommunen und anderen Geldgebern. Und auch aus Russland selbst: Mir ist aus der Zeit vor dem Angriff auf die Ukraine ein russischer Fonds bekannt, der eigens für die Instandhaltung dieser Gedenkorte in Deutschland eingerichtet und verwendet wurde.
In der DDR-Zeit wurden diese Gedenkorte für Veranstaltungen genutzt. Es gab Aufmärsche der sozialistischen Jugendorganisationen und Ähnliches. Sind DDR-Bürger auch aus freien Stücken zu diesen Gedenkstätten gegangen?
Das wird sicher so gewesen sein – aber zumeist waren es Gruppenbesuche von Parteigruppen, Schülerinnen und Schülern innerhalb einer Veranstaltung der Freien Deutschen Jugend (Organisation der SED), von Brigaden in den Betrieben und von Einheiten der Nationalen Volksarmee. Die Gedenkstätten hatten eine wichtige ideologische Funktion – unter anderem, die DDR auf der Seite der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zu verorten. Alle „Faschisten“ waren nach diesem offiziellen Sprachgebrauch in West-Deutschland – und die Gefahr eines Überfalls von dort wurde aufgebauscht. Das führte dann aus ideologischer Sicht bis zum Mauerbau als logische Konsequenz. Sie erkennen leicht die heutige russische Propaganda zum Überfall auf die Ukraine…
Wie kann anders auf die verschiedenen Denkmäler geblickt werden?
Aus heutiger Sicht interessant ist, was denn tatsächlich vor Ort passiert ist, als der vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg nach Deutschland zurückkam. Nehmen wir zum Beispiel den kleinen Ort Seelow in Brandenburg: Dort fand am Oderübergang die letzte große Schlacht statt, bevor die Rote Armee im Frühjahr 1945 Berlin einnahm. Es gab unzählige Tote auf beiden Seiten. Die bereits in den späten 1940er-Jahren entstandene Gedenkstätte verarbeitet dieses dramatische Ereignis ideologisch: Im Mittelpunkt standen die ruhmreichen sowjetischen Soldaten, die Nazideutschland befreiten. Um das Leid der Kämpfenden auf beiden Seiten ging es nicht. Erst in den späten 1980er-Jahren „entdeckte“ man, dass auch eine polnische Armee an der Seite der sowjetischen Armee kämpfte. Und heute erkennen wir angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dass die sowjetische Armee viele Völker umfasste und gerade der Blutzoll der ukrainischen und weißrussischen Soldaten sehr hoch war. Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel: In Seelow wurde bis 1989 betont, dass die sowjetische Armee an diesem Ort erstmals deutschen Boden betreten habe. Das ist ein Versuch, die Geschichte im Nachhinein an die DDR-Sicht anzupassen, die ihre Grenze zu Polen an der Oder verortete. Die Grenzen des Deutschen Reiches lagen aber damals weiter östlich – und von der DDR war 1945 noch keine Rede.
Viele Inschriften an den Gedenkorten erinnern an den Zweiten Weltkrieg, welcher aus Sicht der Sowjetunion mit dem deutschen Überfall begann und von 1941 bis 1945 dauerte. Allerdings begann der Krieg ja auch für die Sowjetunion 1939, mit ihrem Angriff auf Polen. Wäre es nicht an der Zeit, diese Inschriften zu korrigieren?
Sie haben völlig recht – trotzdem sage ich als Denkmalpfleger: Nein. Es geht nicht darum, frühere Interpretationen unkenntlich zu machen. Vielmehr sollten diese verschiedenen Ebenen für die Besucherinnen und Besucher sichtbar gemacht werden. Wir haben gewissermaßen das Privileg, am Original unsere Geschichte zu erfahren! Das Fachwort dafür heißt Kontextualisierung. Das heutige Publikum erfährt, warum die Ereignisse während der DDR-Zeit so und nicht anders interpretiert wurden. Und es erfährt, was die heutige Geschichtswissenschaft dazu sagt, welche weiteren Informationen uns inzwischen vorliegen. Das kann durch Schautafeln oder digital geschehen. Im Übrigen gehören zu vielen Gedenkorten originale Kunstwerke, und die sollten auf keinen Fall angerührt werden. Denken Sie nur an die 30 Meter hohe Statue des sowjetischen Soldaten im Ehrenmal in Berlin-Treptow! Er hält ein gerettetes deutsches Kind auf dem Arm und zertrümmert mit seinem Stiefel ein Hakenkreuz. Ausländische Touristen sehen sich das genauso interessiert an wie Menschen, die die DDR noch erlebt haben. Und dazu gibt es eine mythenhafte Geschichte. Anhand dieser müssen wir uns immer wieder mit dem auseinandersetzen, was tatsächlich passiert ist.
Aber wären nicht viele Zusatzinformationen fällig? Zum Beispiel dazu, wie die sowjetische Armeeführung ihre eigenen Soldaten behandelt hat? Oder dazu, dass auch Frauen in der Roten Armee gekämpft haben, wie es die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch geschildert hat. Bislang preisen die Gedenkorte ja den Heldenmut der Männer. Öffnet das nicht ein riesiges Fass, wenn das alles dem Publikum vermittelt werden soll?
Das Fass ist ja schon auf. Die Geschichtswissenschaft fördert immer neue interessante Details zutage, die die Gedenkorte widerspiegeln sollten, wobei gleichzeitig frühere ideologische Sichtweisen erkennbar bleiben müssen. In 50 oder 100 Jahren werden die Menschen vermutlich noch viel mehr über den Zweiten Weltkrieg wissen. Und die Gedenkorte werden das Publikum darüber informieren – anhand der Originale aus DDR-Zeiten und der zusätzlichen Kontextualisierung. Letztere muss immer auf dem aktuellen Stand sein! Nur so können wir die Fakten aus der Vergangenheit kennenlernen, um unsere Gegenwart zu verstehen.