Berlin weckt Heimatgefühle
Viele Israelis finden in Berlin ihre zweite Heimat – als Fotografen, Journalisten, Musiker oder Bäcker. Was sie an Deutschlands Hauptstadt begeistert.
Yehuda Swed zeigt stolz die moderne Einrichtung seines neuen Büros im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Der Vater zweier Jungs ist kein allzu emotionaler Typ, doch wenn er von seiner Fotoagentur Seesaw erzählt, gerät er ins Schwärmen. „Wäre ich in Israel geblieben, müsste ich wahrscheinlich Hochzeiten fotografieren und wäre nicht annähernd so respektiert.“ Der 1983 geborene Swed kam vor fast zehn Jahren aus Jerusalem nach Berlin, nachdem er 2006 im Libanonkrieg gekämpft und es satt hatte, „dass andere über mein Leben bestimmen“.
Jung, selbstbewusst, abenteuerlustig
Ausgerechnet in Berlin, jener Stadt, in der die Nationalsozialisten den Holocaust planten, leben heute tausende Israelis. Doch so präsent die Shoah sein mag, sie ist viel mehr Teil der Vergangenheit als des Alltags. Zumindest für viele Neu-Einwanderer aus Israel.
Jung, selbstbewusst, abenteuerlustig – in Berlin lebende Israelis ähneln sich in mancher Hinsicht sehr. Viele kommen, um zu feiern, vom Nahostkonflikt Abstand zu gewinnen oder einen Neuanfang zu wagen. Nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg hat sich die Zahl der in Berlin gemeldeten Israelis zwischen 1993 und 2014 auf 6.265 Personen mehr als verdoppelt. Inzwischen ist in den Medien aber von bis zu 30.000 Menschen die Rede. Die israelische Botschaft geht von knapp der Hälfte aus. Verlässliche Zahlen sind rar. Nicht nur, weil viele Israelis ihren Zweitpass angeben. Sicher ist: 2018 waren in Berlin offiziell 5.319 israelische Staatsbürger amtlich registriert.
Ort der interkulturellen Begegnung geschaffen
Aber was zieht Israelis nach Berlin? Hat die deutsche Hauptstadt das Potenzial, Heimatgefühle zu wecken? „Was Heimat für mich bedeutet, kann ich nicht genau sagen“, überlegt Yael Nachshon Levin, „das verändert sich dauernd.“ 2016 hat sie mit ihrer vierköpfigen Familie Tel Aviv verlassen. Aus Liebe zu ihrem Mann, Enkel von deutschen Holocaustüberlebenden, den es nach Deutschland zog – und um sich eine Auszeit zu nehmen. „Ich wollte nach meiner Krebserkrankung ein neues Kapitel aufschlagen“, erzählt die 39-Jährige Nachshon Levin. Doch statt alles etwas langsamer anzugehen, organisierte sie in ihrer Berliner Altbauwohnung bald regelmäßig Wohnzimmerkonzerte und Ausstellungen. Der Erfolg von „Framed“, so der Name ihres Kultursalons, führt 2019 zur Gründung eines Vereins. Die heimelige Atmosphäre bietet nun ein Studio in Friedrichshain, in dem auch Lesungen und Zeichenkurse gehalten werden.
Selbstverwirklichung in der deutschen Hauptstadt
Wer dennoch Heimweh bekommt, kann sich auch in Berlin ohne Mühe in einen israelisch-jüdischen Kosmos begeben. In praktisch jedem Innenstadtbezirk lässt sich nicht nur israelisch essen, sondern auch koscher. So muss niemand auf Falafel oder Shakshuka verzichten. Dazu kann man die neueste Ausgabe des hebräischen „Spitz“-Magazins lesen, das in der Spreemetropole herausgegeben wird oder in der privat geführten Hebräischen Bücherei vorbeischauen und abends noch israelischen Musikern lauschen. Und auch für spirituelle Momente ist gesorgt: Mehr als zehn Synagogen gibt es in Berlin. Jüdische Kitas und (Grund-)Schulen sind ebenfalls vorhanden.
Yehuda Swed fühle sich in erster Linie als Israeli, sagt er, nicht als Jude. Damit seine Kinder neben der deutschen Muttersprache auch Hebräisch lernen, kommuniziert er auf Ivrit mit ihnen. Deutsch ist dem mit einer Deutschen verheirateten Swed noch immer etwas fremd – und Englisch für seine internationale Agentur ohnehin die beste Wahl.
Ob als Fotograf, Modemacher, Journalistin, Start-up-Gründer, Bäcker oder Restaurantbesitzer – viele Israelis lassen sich als Selbstständige an der Spree nieder. Die Freiheit, die eigenen Talente auszuprobieren, ist verführerisch. In Israel sei sie ständig gegen Wände gelaufen, erklärt Yael Nachshon Levin, die auch Musikerin ist und Kolumnistin. In Berlin könne sie ihre Träume realisieren. Außerdem ermögliche ihr die Stadt, mit Syrern und Arabern befreundet zu sein. „Leute, die ich in Israel nicht mal treffe“. Auch für Yehuda Swed spielt der entspannte Umgang mit der eigenen Identität eine entscheidende Rolle: „In Berlin kannst du dich immer wieder neu erfinden, anonym in der Großstadt unterwegs sein oder unter Freunden in deinem Kiez.“
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