„Vor allem junge Russinnen und Russen nehmen unsere Angebote wahr“
Sergej Lukashevsky, langjähriger Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums, über seine Arbeit im deutschen Exil und den Widerstand gegen russische Propaganda.
Herr Lukashevsky, Sie haben 15 Jahre lang das Moskauer Sacharow-Zentrum geleitet. Es ist benannt nach dem sowjetischen Regimekritiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Seit 2022 leben Sie mit ihrer Familie in Deutschland und setzen sich weiter für Menschenrechte und Meinungsfreiheit in Russland ein. Was können Sie im Exil bewirken?
Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen des Sacharow-Zentrums leben inzwischen im Exil. Gemeinsam versuchen wir, unsere Medien und Bildungsprojekte digital fortzuführen. Wir sind zwar recht verstreut in Israel, Georgien, Frankreich, Deutschland, Polen und anderen Ländern, doch die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Durch die Corona-Pandemie hatten wir glücklicherweise schon Erfahrung damit, online zu arbeiten. Das hilft uns jetzt.
Welche Projekte sind das?
Auf unserem Youtube-Kanal „Das Land und die Welt“ diskutieren wir unter anderem die Folgen der moralischen und politischen Katastrophe der russischen Invasion in die Ukraine. Auch unsere Bildungsformate wie die Menschenrechtsschule und Schulungen für Menschenrechtsanwälte werden online fortgeführt. Vor allem junge Russinnen und Russen nehmen unsere Angebote wahr. Ein wichtiger Nebeneffekt der Schulungen ist, dass sich hier Menschen aus allen Teilen des Landes kennenlernen und vernetzen können. Sie sehen, dass sie, anders als die Propaganda des Regimes sie glauben machen will, nicht allein sind.
Mit Unterstützung des Recherchenetzwerks Correctiv haben sie außerdem Radio Sacharow aufgebaut. Ist das ein klassischer Radiosender?
Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung. Die Kolleginnen und Kollegen von Correctiv sind hochprofessionell und haben bereits Erfahrung mit Exilprogrammen. Bei Radio Sacharow handelt es sich genau genommen um eine App, denn Apps gehören zu den wenigen Medien, die das russische Regime nur schwer kontrollieren kann. Youtube und andere Internetkanäle kann es sperren. Um zu verhindern, dass jemand eine App herunterlädt, müsste die Regierung jedoch generell den Zugang zu App Stores blockieren. So weit geht sie bisher nicht.
Worüber berichten Sie bei Radio Sacharow?
Leider haben wir nicht die Mittel, um ein klassisches Radioprogramm zu senden. Wir kooperieren daher mit Partnern wie BBC Russland. Gleichzeitig produzieren Hörerinnen und Hörer eigene Podcasts über aktuelle Themen in Russland, die wir in der App veröffentlichen. Wir bieten den Menschen also weiter eine Plattform, auf der sie unzensierte und unabhängige Informationen teilen können.
Worum geht es in den Podcasts?
Die Themen sind vielschichtig. Es geht nicht allein um den Krieg, sondern auch um soziale und kulturelle Themen. Das kann zum Beispiel die Bedrohung von Frauen durch häusliche Gewalt sein, die ein großes Problem in Russland darstellt.
Wie viele Menschen hören Radio Sacharow?
Im vergangenen Jahr konnten wir mit dem Programm, das wir auch über andere digitale Kanäle wie Youtube oder Spotify verbreiten, rund 2,5 Millionen Menschen erreichen.
Das Sacharow-Zentrum wurde 2023 von einem Moskauer Gericht zum „ausländischen Agenten“ erklärt und aufgelöst. Welche Bedeutung hatte es vor der Schließung?
Das Sacharow-Zentrum war 25 Jahre lang eine der wichtigsten Organisationen der Demokratieförderung in Russland. Es war eine der letzten unabhängigen Institutionen für einen freien politischen Diskurs.
Wann änderte sich das?
Das ging schrittweise. 2015 erließ die Regierung ein Gesetz, das Organisationen, die Gelder aus dem Ausland erhalten, als ausländische Agenten einstufte. Auch das Sacharow-Zentrum kam auf diese Liste und stand seither unter besonderer Beobachtung. Wir erhielten auch Morddrohungen. Unsere Arbeit wurde immer stärker behindert und zensiert. Regierungsanhänger blockierten unsere Konferenzen oder zerstörten unsere Ausstellungen. Veranstaltungen mit Schulen, Universitäten oder staatlich finanzierten Museen konnten ebenfalls nicht mehr stattfinden. Zum 100. Geburtstag von Andrej Sacharow hatten wir 2021 Ausstellungen mit Regionalmuseen geplant, doch sie zogen die Zusagen aus Angst vor Repressionen zurück.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Spätestens als die Duma, das russische Parlament, nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine sogenannte Fake News über die russische Armee unter Strafe stellte, war klar, dass wir unsere Arbeit nicht fortsetzen können. Ein Teil des Teams ging daher ins Ausland, um unsere Projekte vom Exil aus weiterzuführen.
Gibt es in Russland noch zivilgesellschaftliche Initiativen, die für Demokratie kämpfen?
Es mag wenig Gruppen geben, die noch öffentlich auftreten, dennoch setzen sich Tausende Menschen weiter aktiv für Demokratie und Menschenrechte ein. Sie unterstützen ukrainische Geflüchtete in Russland oder helfen, ukrainische Kinder zu finden, die nach Russland verschleppt wurden. Sie schreiben auch Briefe an ukrainische Kriegsgefangene oder politische Gefangene, obwohl das gefährlich ist.
Wie geht es mit Radio Sacharow weiter?
Dank Reporter ohne Grenzen können wir nun auch via Satellit senden. Die Organisation hat ein Projekt ins Leben gerufen, über das Exilmedien Satelliten-Frequenzen erhalten. Auf diesem Weg können wir 4,5 Millionen Haushalte allein in Russland erreichen.
Wie ist Ihre persönliche Situation? Würden Sie gern nach Russland zurückkehren?
Ich hoffe natürlich, dass wir irgendwann das Sacharow-Zentrum in Moskau wiedereröffnen können. Derzeit läuft in Russland gegen mich jedoch ein Verfahren wegen der Verbreitung von Fake News. Sollte ich zurückreisen, würde ich ähnlich wie Alexej Nawalny sofort festgenommen.