Die Kunst des Erinnerns
Comics als Lehrmaterial: Die Graphic Novel „Aber ich lebe“ bewahrt die Erinnerungen von Shoa-Überlebenden und bietet einen neuen Zugang zur Geschichte.
Wie etwas beschreiben, für das es im Grunde keine Worte gibt? Wie Erinnerungen festhalten, von denen in wenigen Jahren niemand mehr erzählen kann? Das Buchprojekt „Aber ich lebe” stellt sich genau diesen schwierigen und wichtigen Fragen. Es ist Teil des Forschungsprojektes „Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education“ der kanadischen University of Victoria und vielen internationalen Kooperationspartnern. Drei internationale Comic-Künstlerinnen und -Künstler aus Deutschland, Kanada und Israel erzählen drei Geschichten von Überlebenden.
Die Zeichnerinnen und Zeichner Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar trafen sich 2019 zum ersten Mal mit den Shoa-Überlebenden. Es folgten viele weitere Gespräche. Emmie Arbel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp, von ihren Eltern getrennt, wurden vom niederländischen Widerstand an 13 verschiedenen Orten vor den Schergen der Nazis versteckt. Diese Erinnerungen sollten niedergeschrieben, grafisch aufbereitet und so bewahrt werden.
„Wir haben die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer wieder einbezogen. Die Künstlerinnen und Künstler konnten biografische Fragen stellen und wir haben die Skizzen anschließend gemeinsam begutachtet“, beschreibt Herausgeberin Charlotte Schallié die Zusammenarbeit. „Das Forschungsteam hat sich dabei nicht in die Gespräche eingemischt oder sie in irgendeiner Weise gelenkt. Die Überlebenden hatten bei allen Manuskriptfragen das letzte Wort.“ Sie hätten sich auch nicht gescheut, Kritik zu üben, aber sie hätten den Künstlerinnen und Künstler trotzdem viele Freiheiten gelassen.
Es sollten bewusst keine klassischen Interviews geführt werden. „Ich habe die Künstlerinnen und Künstler gebeten, sich einzubringen. Ein Zeitzeugnis entsteht immer im Dialog“, sagt Schallié. Auch bei der Herausgeberin löst das Projekt viele Emotionen aus. Ihre ungarische Großmutter wurde in Auschwitz von den Nazis ermordet: „Empathie, Zuneigung, Fürsorge, Betroffenheit, Verbundenheit, Trauer – aus meiner Sicht ist es in einem solchen Projekt weder möglich noch wünschenswert, menschliche Distanz zu wahren. Dabei ging die kritische und wissenschaftliche Distanz aber keineswegs verloren.“
Neuer Zugang zur Geschichte: Comics als Lehrmaterial
„Ein Comicbuch wäre für viele vielleicht nicht die erste Wahl, um komplexe Holocaust-Erinnerungen darzustellen, doch am Ende war es genau das richtige Format und Forschungsmittel.“ Zum Beispiel ließen sich Dinge wie Schweigen oder Leere visuell gut darstellen. „Leerstellen in Comics sind nicht wirklich leer. Sie geben dem Unaussprechbaren einen Raum“, erklärt Schallié. „Die Überlebende Emmie Arbel konnte sich beispielsweise oft nicht an ihre Erlebnisse als Kind in den Konzentrationslagern erinnern. In einem klassischen Zeitzeugenbericht sind solche Erinnerungslücken nicht fassbar, in Comics schon.“
Jungen Menschen würde der Holocaust oft aus Tätersicht vermittelt. Graphic Novels wie „Aber ich lebe“ können hier ein neuer Zugang sein. „Wir sind gerade im Endspurt, die Lehrmaterialien zu redigieren, sodass sie in Kürze veröffentlicht werden können. Im Sommer wird ein Workshop für Lehrerinnen und Lehrer aus Deutschland in Yad Vashem angeboten, in dem man lernt, wie man das Buch als modernes Lehrmaterial nutzen kann, um einen neuen Zugang zur Geschichte zu ermöglichen“, sagt Schallié.