Holocaust-Gedenken in Sozialen Medien
Viele junge Menschen informieren sich über TikTok – auch über den Holocaust. Eine Chance für den Überlebenden Gidon Lev.
Gidon Levs Kindheit endete, als er sechs Jahre alt war. Er war eines von 15.000 Kindern im Konzentrationslager Theresienstadt bei Prag. Und eines der wenigen, die das KZ überlebten. Seinen Vater verlor er kurz vor der Befreiung auf dem Todesmarsch der Häftlinge nach Buchenwald.
Heute ist der 88 Jahre alte Lev, er lebt bei Tel Aviv, TikToker mit über acht Millionen Likes. Julie Gray, seine Biografin und Lebensgefährtin, gründete im Sommer 2021 gemeinsam mit ihm den Account. Die beiden hatten sich kennengelernt, als er eine Autorin für seine Lebensgeschichte suchte. Sie wollten zunächst vor allem Levs Buch auf TikTok bewerben, dabei bemerkten sie, dass einige TikToker Corona-Impfungen mit dem Holocaust verglichen. Lev reagierte direkt darauf – und gewann damit schnell Reichweite. Mittlerweile folgen ihm auf seinem account @thetrueadventures Gidon&Julie fast eine halbe Million Menschen bei seiner Aufklärung über den Holocaust.
TikToks aus dem Alltag eines Holocaust-Überlebenden
Neben Erklärvideos zum Thema Holocaust zeigt Lev auch seinen Alltag. Unter einem TikTok aus dem Schwimmbad steht: „Zwei Kundgebungen besucht, 60 Achtklässlern die eigene Lebensgeschichte erzählt und ins Becken gesprungen.“ Ein anderer Clip zeigt seine Version des „Ancestor Trends“, einen gespielten Dialog zwischen den eigenen Vorfahren und sich selbst. Lev erklärt darin seiner Familie aus den 1940er-Jahren, warum er auf dieser Social-Media-Plattform unterwegs ist. Oft tanzt er in seinen Kurz-Videos auch, das ist sein größtes Hobby. „Ich bin dankbar, dass ich noch so viel Energie habe, um all diese Ideen auch umzusetzen.“
Gray unterstützt ihn bei der Produktion der Videos. „Warum sollten wir ihn als Opfer darstellen? Sein Trauma definiert ihn nicht, seine Inhalte müssen nicht traurig und ernst sein. Er ist ein Mensch, der gestern Abend Spaghetti gegessen hat.“ Die Schriftstellerin kümmert sich auch um das Community Management: „Die meisten Kommentare sind positiv. Aber die Hasskommentare sind dafür sehr schlimm.“
Bildung gegen Antisemitismus
Der Umgang mit Hass ist auch ein Thema in Neuengamme, der ersten deutschen KZ-Gedenkstätte mit einem TikTok-Account: @neuengamme.memorial. Schnell lernten sie, rechte Strategien und Schlagwörter zu erkennen. Die Chance, mit einem Video viral zu gehen, könne über Nacht auch unzählige Hasskommentare mit sich bringen. „Wir haben eine Stop-Liste erstellt, die bestimmte Kommentare gar nicht erst anzeigt. Wir sehen uns als Safe Space an und wollen unser Publikum nicht allem aussetzen“, berichtet Pressesprecherin Iris Groschek. Auch Gray und Lev handhaben Hassrede auf diese Weise. Diese „Filter“ müsse man regelmäßig aktualisieren, da sich rechte Sprache online ständig verändere. Gray sieht das insgesamt als Chance: „Neonazis nutzen Social Media gezielt, um zu rekrutieren. Wir klären junge Menschen auf, wenn sie manche Dinge einfach noch nicht genau wissen.“
Dialog mit der Generation Z
Anders als bei Lev steckt hinter der Arbeit in Neuengamme ein ausgefeiltes Konzept. Groschek wollte junge Menschen erreichen, „und zwar nicht im Rahmen des Schulbesuchs, sondern in ihrem Lebensalltag.“ In der Kategorie „History Toks“ werden Clips mit Grundlagen vermittelt, aber auch die weniger bekannte Geschichte ist Thema, etwa wenn es um das Schicksal queerer Häftlinge geht. Im Rahmen ihres Freiwilligenjahres in Neuengamme stehen zudem junge Menschen aus aller Welt vor der Kamera und beantworteten Fragen der Community auf Augenhöhe. Aktuelle Host ist die Geschichtsstudentin Marie Zachger: „Ich finde es schön, wie interaktiv die Plattform ist.“ Durch direkte Videoantworten auf Fragen, „Duette“ oder „Stitches“ genannt, gelingt der Austausch schneller und flexibler. In der analogen Gedenkarbeit mache sich die Social-Media-Arbeit auch bemerkbar. „Die Fragen der Kinder sind sehr spezifisch, weil sie bereits vieles auf TikTok gesehen haben. Das wollen sie dann nochmal genauer erklärt bekommen“, sagt Groschek.
Lev beschreibt Erfahrungen aus erster Hand
Lev unterhält mit vielen Gedenkstätten Kooperationen, darunter auch Neuengamme. Dabei beantwortet er geduldig die Fragen der Nutzerinnen und Nutzer. Außerhalb von TikTok wird er vor allem von Schulen angefragt. Lev hat an seine frühe Kindheit nicht mehr viele Erinnerungen, aber die wenigen, die er hat, sind sehr präsent. In der Hoffnung auf ein sicheres Leben ging die Familie 1938 von Karlsbad nach Prag. Doch eines Tages durfte er auch dort nicht mehr auf die heißgeliebte Schaukel im Park. Das Gefühl von kindlicher Ohnmacht – es ist ihm so präsent wie die eisige Kälte auf dem Weg nach Theresienstadt und die vier Jahre andauernde Angst davor, „in den Osten geschickt zu werden“.
Die Befreiung rettete ihm das Leben, aber in der Zeit danach war er unterernährt und krank. Vergeblich warteten der damals Zehnjährige und seine Mutter auf ihre Verwandten. 1959 kam Lev schließlich nach Tel Aviv und begann ein neues Leben. „Da verstand ich, was Hoffnung bedeutet.“ Sein zweites Buch handelt von diesem Gefühl und das ist es auch, was er mit seinem TikTok-Account vermitteln möchte. „Ich habe das Grausame überlebt. Später habe ich zwei Krebserkrankungen besiegt“, erzählt er. Er kann immer wieder nach vorne blicken und inspiriert andere Menschen mit seiner Lebensfreude. „Ich habe sechs Kinder, 15 Enkel und zwei Urenkelinnen. Vielleicht können sie in einer besseren Welt leben.“