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„Uns eint mehr, als uns trennt“

Chemnitz verbindet Nirit Sommerfeld mit der Verfolgung ihrer Familie. Ihre Antwort: Die Künstlerin schafft Orte der Begegnung. 

Anja LeuschnerAnja Leuschner, 16.01.2025
Nirit Sommerfeld hat sich für ein Leben in Chemnitz entschieden.
Nirit Sommerfeld hat sich für ein Leben in Chemnitz entschieden. © Jens Heilmann

Nirit Sommerfeld ist eine deutsch-israelische Sängerin, Schauspielerin, Autorin und Gastronomin. Sie ist Jüdin, wurde 1961 in Eilat in Israel geboren, lebt seit vielen Jahren in Deutschland und ist vor Kurzem nach Chemnitz gezogen. Ihre familiäre Geschichte verbindet sie mit der Stadt. Im Interview erzählt sie, was ihrem Vater und Großvater in Chemnitz widerfuhr und wie sie sich heute für Erinnerung, Kunst und Begegnung und gegen Ausgrenzung engagiert.

Frau Sommerfeld, Sie sind nach Chemnitz gezogen, um sich auf die Spuren Ihres Großvaters zu begeben. Was hat Sie dazu bewogen?

Als vor etwa zwei Jahren bekanntgegeben wurde, dass Chemnitz Kulturhauptstadt Europas werden würde, habe ich mich näher mit der Stadt und mit unserer familiären Geschichte dort befasst. Ich besitze hier ein kleines Grundstück – die Fläche, auf der früher das Haus meiner Großeltern stand. Mein Großvater Julius wurde 1939 verhaftet und 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet. Das Haus wurde zum „Jüdischen Altersheim“, von dort aus wurden viele Juden in die Vernichtungslager geschickt. Heute ist von dem Haus nichts übrig, das Grundstück wurde als Parkplatz genutzt. Im Rahmen der Veranstaltungen zur Kulturhauptstadt möchte ich hier ein Kulturzentrum schaffen, einen Pavillon für Kunst, Kultur, Forschung, Begegnung und Jugendarbeit. Mit einer ganz klaren Botschaft: Es sind schreckliche Dinge passiert, derer wir gedenken und aus denen wir lernen. So etwas soll niemandem, nie wieder, nirgendwo passieren.

Eine Schülergruppe verschönert den Antonplatz.
Eine Schülergruppe verschönert den Antonplatz. © privat

Den Pavillon gibt es noch nicht, dafür haben Sie aber schon einige Veranstaltungen auf dem ehemaligen Antonplatz, also dort, wo das Haus Ihrer Großeltern stand, realisiert. Welche ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?

Schülerinnen und Schüler des Agricola-Gymnasiums haben sich im Rahmen eines Geschichtsprojekts namens „Spurensuche“ ein Jahr lang mit dem ehemaligen Antonplatz und seiner Geschichte auseinandergesetzt. Tatsächlich ist mein Vater dort früher zur Schule gegangen, bevor er zunächst in die Schweiz und dann nach Palästina geflohen ist. Die Schülerinnen und Schüler haben sich meine Geschichten angehört und den Platz verschönert. Auf Instagram haben sie ihr Projekt festgehalten, um Aufmerksamkeit über die Stadtgrenzen hinaus zu erzeugen. Im August haben wir dort auch den Geburtstag meines Vaters gefeiert, er wäre 105 Jahre alt geworden. Ich habe Kuchen gebacken, wir haben Kaffee getrunken. Passanten habe ich eingeladen, sich zu uns zu gesellen. Jeder war willkommen. Es steht dort zwar kein Haus mehr, aber wir machen den Platz wieder lebendig.

Ich möchte einen Ort schaffen, an dem die Menschen sich begegnen, in die Augen schauen und merken: Uns eint mehr, als uns trennt.
Nirit Sommerfeld, Künstlerin

Sie haben nun auch den Betrieb des Cafés im staatlichen Archäologiemuseum in Chemnitz übernommen. Sie haben es „Julius im Schocken“ benannt, nach Ihrem Großvater und dem jüdischen Kaufhaus, das in dem Gebäude war. Was planen Sie dort?

In erster Linie soll es ein Ort sein, in dem die Leute in angenehmer Atmosphäre gut essen und trinken können. Aber es soll auch ein Ort der Begegnung sein. Die Erinnerung, auch an meinen Großvater, soll ein Vehikel sein, um im Heute ein besseres Leben zu schaffen. Es geht nicht darum, in der Vergangenheit zu schwelgen, aber erinnern ist so wichtig, weil wir daraus lernen können. Hier im Café arbeiten Juden, Muslime, Christen und Atheisten zusammen. Ich möchte einen Ort schaffen, an dem die Menschen sich begegnen, in die Augen schauen und merken: Uns eint mehr, als uns trennt. Ich will hier dieses Jahr das Pessach-Fest feiern und jeden dazu einladen, der mit uns feiern möchte. 

Das Café Julius im Schocken im staatlichen Archäologiemuseum
Das Café Julius im Schocken im staatlichen Archäologiemuseum © privat

Außerdem werde ich zur Eröffnung der Kulturhauptstadt wöchentlich stattfindende Kulturabende ausrichten. Ich werde aus meinem eigenen Roman lesen, zu Gesprächsrunden einladen, andere Autoren lesen lassen, es soll musiziert werden. Kultur, das bedeutet für mich, dass Menschen zusammenkommen. Und dafür sollen sowohl im Café Julius im Schocken als auch auf dem Antonplatz Begegnungsräume entstehen.