„Geschützter Raum für kulturelle Arbeit“
10 Jahre Kulturakademie Tarabya: Pia Entenmann über Stipendiatinnen und Stipendiaten, Projekte und die große Jubiläumsveranstaltung.
Ein besonderer Ort mit besonderen Gästen: Seit bald zehn Jahren lädt die Kulturakademie Tarabya in Istanbul Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland in die historische Sommerresidenz des deutschen Botschafters ein. Die Kulturakademie wird von der Deutschen Botschaft Ankara betrieben; die kuratorische Verantwortung trägt das Goethe-Institut. Unterschiedlichste Kulturschaffende aus zahlreichen Sparten waren bereits in Tarabya zu Gast. Zum Jubiläum richtet die Kulturakademie von Anfang September bis Ende Oktober deutschlandweit das Festival „Studio Bosporus“ aus und feiert damit zugleich den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei als zentrales Erinnerungsdatum gesellschaftlicher Vielfalt. Die kuratorische Leiterin Pia Entenmann stellt im Interview die weitreichende Arbeit der Kulturakademie Tarabya vor.
Frau Entenmann, was bietet die Kulturakademie Tarabya?
Es ist ein Residenzprogramm für Künstler verschiedener Sparten. Ziel ist es, einen Beitrag zum deutsch-türkischen Kulturaustausch zu leisten. Der Aufenthalt soll zur Inspiration und Weiterentwicklung der Arbeit dienen. Tarabya schafft für Künstler einen geschützten Raum für kulturelle Arbeit, für Dialog und künstlerische Freiheit. In sieben Künstlerapartments, einem Begegnungsraum und zwei Ateliers sowie mit dem weitläufigen Parkgelände direkt am Bosporus bietet die Kulturakademie den Stipendiaten ideale Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten – fernab vom Zentrum der Millionenmetropole Istanbul und doch mit guter Anbindung zu dieser.
Wie ist die Idee für die Kulturakademie entstanden?
Ins Leben gerufen wurde die Kulturakademie auf Initiative des Deutschen Bundestages, um zur positiven Entwicklung der kulturellen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland beizutragen. Eröffnet wurde sie offiziell am 13. Oktober 2011 im Beisein der beiden damals amtierenden Außenminister Guido Westerwelle und Ahmet Davutoğlu. Eine wichtige Rolle spielten unter anderen Klaus-Dieter Lehmann als Präsident des Goethe-Instituts sowie zahlreiche Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen. Die künstlerische Ausrichtung prägten intensiv die damalige Leiterin des Goethe-Instituts Istanbul Claudia Hahn-Raabe und langjährige Jurymitglieder wie der Lyriker und Intendant der Berliner Festspiele Joachim Sartorius und die Theaterintendantin Shermin Langhoff.
Wie wird man Stipendiat?
Anfangs wurden Künstler vorgeschlagen, inzwischen ist es so, dass sich Interessierte selbst bewerben. Die Auswahl erfolgt in einem fünfstufigen Verfahren: Erst sichtet das Goethe-Institut Istanbul die Bewerbungen nach formalen Kriterien. Anschließend bewerten deutsche und türkische Fachberater in allen Sparten die Bewerbungen in ihrer jeweiligen Disziplin und vergeben Punkte. Kriterien sind künstlerische Qualität und Ästhetik des vorliegenden Portfolios, Relevanz und Innovationscharakter in der zeitgenössischen Kulturszene Deutschlands, aber auch interkulturelles Potenzial des Werks bezogen auf die Türkei. Berücksichtigt wird auch die Motivation der Bewerber, nach Istanbul zu kommen. Das Urteil der Experten ist zwar für die fünfköpfige Jury – neben dem Beirat der Kulturakademie unser wichtigstes Entscheidungsgremium – nicht bindend, dient dieser aber als Orientierung beim Sichten der vielen Bewerbungen. Schließlich empfiehlt die Jury ihre Auswahl dem Stipendienausschuss. Der wiederum besteht aus der Juryvorsitzenden Feo Aladag, der Beiratsvorsitzenden Staatsministerin Michelle Müntefering und der Leitung der Kulturakademie Tarabya.
Welche Vorgaben gibt es für die Stipendiaten?
Die Stipendien der Kulturakademie Tarabya sind ergebnisoffen. Eine Produktionsverpflichtung, eine Präsentation am Ende des Aufenthalts wird nicht erwartet. Genau diese Kombination von Abgeschiedenheit des Ortes, Vernetzung mit der türkischen Szene und Ergebnisoffenheit ergibt eine ideale Mischung – die Ergebnisse, ob lyrischer, tänzerischer, filmischer oder künstlerischer Art, sind jedes Jahr so überzeugend und sprechen für sich.
Was findet vor Ort mit den Künstlern statt?
Wir unterstützen den Kontakt zur türkischen Zivilgesellschaft mit Projekten. Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie gab es mehr als 50 Veranstaltungen pro Jahr. Zwei Netzwerkformate sind für die Stipendiaten besonders wertvoll: die „Creative Talks“, ein Speeddating-Event in unserem Garten, bei dem sich die neu angekommenen Künstler mit Vertretern der Istanbuler Kulturszene vernetzen können, und die wöchentlichen „Tarabya Tuesdays“, bei denen die Residenten, das Team der Kulturakademie und auch regelmäßig – themenspezifisch – Istanbuler Kulturschaffende zusammenkommen. An der großen Anzahl und Diversität der Teilnehmenden sieht man, dass auch die türkische Seite an einem Austausch sehr interessiert ist. Wir kooperieren mit türkischen Kulturstiftungen wie der Istanbuler Kunst- und Kulturstiftung İKSV, Universitäten wie der Mimar Sinan Üniversitesi, Museen wie dem Pera- oder dem Arter-Museum, Galerien, Theatern sowie weiteren wichtigen Akteuren der Kulturszene und Zivilgesellschaft in der Türkei wie Anadolu Kültür oder SALT.
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Aktivitäten der Kulturakademie aus?
Ein großer Vorteil der Kulturakademie Tarabya ist ihre etwas abgeschiedene Lage, umgeben von Natur. So konnten wir während der Pandemie – also in einer Zeit, in der Kulturschaffende besonders auf diese Form von Förderung angewiesen waren – durchgehend Stipendien anbieten. Denen, die aus gesundheitlichen Gründen Sorge hatten, in die Türkei zu reisen, sind wir entgegengekommen, mit Verschiebungsoptionen und Ausfallstipendien. Unsere Programme fanden in reduzierter Form statt, teils online, teils Open Air, teils mit Partnerinstitutionen. Museen in der Türkei waren in den vergangenen Monaten trotz Corona geöffnet. So konnte etwa die große Ausstellung „Sandsturm“ zu Desertifikation und Klimawandel, initiiert von unserem Alumnus Ayat Najafi, im Depo İstanbul im Herbst 2020 stattfinden.
Was waren bisher Highlights künstlerischer Auseinandersetzungen und Veranstaltungen vor Ort?
Oh, es sind so viele… Einige möchte ich besonders hervorheben: die jährlichen Sommerfestivals in Tarabya mit einem multidisziplinären Programm der Stipendiaten im Garten der Sommerresidenz des deutschen Botschafters mit rund 800 Gästen aus der Istanbuler Kulturszene. Und die Ausstellung „Leaderless“ von Isaac Chong Wai bei Bilsart in Istanbul im Januar 2021 mit großartigen türkischen Performancekünstlern zur Frage, ob es eine Welt ohne Anführer, ohne personalisierte Macht geben kann. Etwas Besonderes war das Theaterprojekt „Auch Deutsche unter den Opfern“ von Regisseur Tuğsal Moğul; drei junge türkische Schauspieler schlüpften im Istanbuler Theater Kumbarcı50 in die Rolle der NSU-Terroristen. Beide Projekte zeigen, wie sehr sich die Stipendiaten während ihres Aufenthalts mit aktuellen Themen befassen und mit dem „Gastland“ interagieren.
Gibt es Projekte für die Zukunft?
O ja! Unser nächstes großes Ereignis ist das Festival „Studio Bosporus. 10 Jahre Kulturakademie Tarabya“; es läuft vom 3. September bis 31. Oktober mit mehr als 100 Künstlerinnen und Künstlern, in Kooperation mit zahlreichen Partnern in ganz Deutschland, schwerpunktmäßig in Berlin-Kreuzberg. Damit richten wir einen Fokus auf den deutsch-türkischen Dialog und nehmen die politische Situation in der Türkei ebenso in den Blick wie die plurale Gesellschaft Deutschlands. Anlass ist neben unserem zehnjährigen Bestehen auch der 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei als zentrales Erinnerungsdatum einer gesellschaftlichen Vielfalt.
Ab Oktober haben wir erstmals deutsch-türkische Koproduktionsstipendiaten in Tarabya. Koproduktionen bedeuten gemeinsame Arbeitsprozesse, mit denen ein deutlich tieferer und nachhaltigerer Austausch und der Aufbau von Netzwerken ermöglicht wird. So entstehen weit über die Stipendiendauer hinaus nachhaltige Beziehungen. Es freut mich sehr, dass wir mit der Allianz Kulturstiftung einen Partner gefunden haben, der dies nun auch finanziell ermöglicht.