Und wo kommt ihr her?
Die deutsch-vietnamesische Autorin Khuê Phạm schreibt nach einer Reise nach Singapur über Fragen zu Heimat und Identität.
Der beste Flughafen der Welt, die üppigsten Essensmärkte, die je in einem Kinofilm verewigt wurden – für mich war Singapur stets eine Stadt der Superlative, irgendwo zwischen asiatischem Autoritarismus und westlicher Demokratie. Ich war vor vielen Jahren schon einmal in Singapur, als ich dort auf dem Weg zu meinen Verwandten in Vietnam einen Zwischenstopp einlegte: das britische Englisch der Menschen, die blitzblanken Straßen und die mal kolonialistische, mal hypermoderne Architektur verliehen dem Ort eine Weltläufigkeit, die ich von Ho-Chi-Minh-Stadt, Peking oder Tokio nicht kannte.
Als ich Anfang November wieder im Flugzeug dorthin saß, war ich davon selbst überrascht: Wir befanden uns mitten in der Pandemie, es war meine erste Reise seit fast zwei Jahren, das Ganze fühlte sich so abenteuerlich an wie eine Weltraummission zum Mars. Ich würde das Singapore Writers Festival besuchen und im Auftrag des ifa über meine Arbeit als ZEIT-Journalistin und Buchautorin sprechen, denn ich hatte kurz zuvor meinen Debütroman „Wo auch immer ihr seid“ (btb) veröffentlicht, eine literarische Annäherung an meine Familie, die in Deutschland, Vietnam und Amerika lebt. Ich selbst bin in Berlin geboren und aufgewachsen.
Wie erkläre ich anderen diese Widersprüche in mir?
Ich ahnte nicht, dass sich diese Reise auch aus anderen Gründen als äußerst überraschend erweisen würde: Ausgerechnet in Singapur, 9.900 Kilometer von meiner Heimat Berlin entfernt, stellen sich sehr viele Menschen sehr ähnliche Fragen wie ich: Was bedeutet es, wenn ich mich westlich und asiatisch zugleich fühle? Wie passen all die unterschiedlichen Kulturen in mir zusammen? Und wie erkläre ich anderen diese Widersprüche in mir?
Als Erstes sprach ich darüber mit dem Autor Parag Khanna, den ich am Tag nach meiner Ankunft bei einem Mittagessen mit dem deutschen Botschafter Norbert Riedel traf. Khanna ist in Indien geboren und in Dubai und den USA aufgewachsen, er hat zuletzt ein Buch über Migration geschrieben, „Move“. In fließendem Deutsch erzählte er, dass er vor neun Jahren mit seiner Familie nach Singapur gezogen war, weil es die „Hauptstadt von Asien“ sei und man normalerweise sehr schnell nach Delhi, Shanghai oder Hongkong fliegen könne. Er findet Singapur aber nicht typisch asiatisch. Im Gegenteil, er schätzt daran das Multikulturelle: Neben der großen chinesischen Community gibt es eine indische und eine malaiische Gemeinde.
„Haben Sie zur indischen Community eine besondere Beziehung, weil Sie in Indien geboren wurden?“, fragte ich ihn. Khanna schüttelte den Kopf. Für ihn als global intellectual liegt der Reiz darin, sich nicht auf eine Kultur festzulegen, sondern einseitige Kategorien zu überwinden. Das konnte ich gut nachvollziehen, denn auch ich war oft genervt gewesen, wenn mich andere fragten, ob ich mich selbst „als Deutsche oder als Vietnamesin“ bezeichnen würde. Manchmal antwortete ich darauf mit einem „Weder noch“, manchmal mit einem „Sowohl als auch“. Für mich liefen beide Antworten auf das Gleiche hinaus: eine Identität, die fluide ist.
Die Frage nach der Heimat bleibt natürlich trotzdem kompliziert. Am Tag darauf traf ich mich mit Bridgette See, die meinen Talk beim Singapore Writers Festival moderieren würde und zur chinesischen Community gehört.
Sie bestellte unsere Getränke auf Englisch und erklärte, dass sie das immer tue, auch wenn ihr Gegenüber chinesisch aussehe: Man könne ja nicht davon ausgehen, dass er oder sie die Sprache auch spreche. Zu China, der Heimat ihrer Großeltern, hat sie ein ambivalentes Gefühl. Als sie dort Anfang der 2000er-Jahre als Rucksacktouristin unterwegs war, wollte sie mit dem Zug fahren und fühlte sich irritiert, als sich die Passagiere beim Einstieg aneinander vorbeidrängelten, um schnell zu ihren Plätzen zu kommen, obwohl sie diese doch vorher reserviert hatten. „Ich sprach zwar die gleiche Sprache und konnte mit den Einheimischen gut kommunizieren. Aber mir wurde klar, dass ihre Psyche sich von meiner unterschied. Wir waren uns ethnisch ähnlich, aber nicht kulturell. Deswegen empfinde ich China nicht als Heimat.“
Zwischen Nähe und Entfremdung
Bridgette See fragte mich nach meiner Haltung zu Vietnam, und ich erzählte ihr, dass es mir dort ähnlich gehe. Je länger wir sprachen, desto klarer wurde mir, dass wir beide zur asiatischen Diaspora gehören und deswegen eine Ambivalenz teilen: Einerseits waren wir mit der chinesischen und vietnamesischen Kultur vertraut, ebenso mit der Sprache. Andererseits lebten wir in Singapur und Deutschland, das prägt uns mindestens genauso sehr. Gehört es zum Diaspora-Dasein einfach dazu, dass man stets zwischen Nähe und Entfremdung schwankt? Wahrscheinlich.
Auch deshalb sind Veranstaltungen wie das Singapore Writers Festival so wichtig: um Autor:innen zusammenzubringen, die über diese Widersprüche nachdenken und sie in Gedichte, Kurzgeschichten und Romane verwandeln. Am Tag nach meinem Kaffee mit Bridgette See habe ich darüber auf einem Panel mit zwei Dichterinnen gesprochen, die aus Kanada zugeschaltet waren: Hoa Nguyen, die in Vietnam geboren wurde, aber kein Vietnamesisch spricht, da sie in den USA aufgewachsen ist. Und Souvankham Thammavongsa, die aus einer laotischen Familie stammt, aber in einem Flüchtlingslager in Thailand geboren wurde. Ich war erstaunt zu hören, wie viel wir gemeinsam hatten, obwohl unsere Leben so unterschiedlich verlaufen waren.
Am Tag meiner Abreise machte ich noch einen Abstecher zur deutschen Schule, der German European School Singapore. Ich wurde in eine kleine, moderne Bibliothek geführt und war überrascht zu sehen, dass „Wo auch immer ihr seid“ bereits in den Regalen stand, katalogisiert mit einem hellgrünen Etikett, auf dem „LIT PHAM“ zu lesen war. Hätte mir jemand vor einem Jahr erzählt, dass mein Roman quer durch die Welt reisen und in dieser Bibliothek landen würden, hätte ich es für utopisch gehalten. An dieser Schule aber, an der Kinder aus mehr als 66 Nationalitäten unterrichtet werden, waren sie sehr froh darüber. Denn die Geschichte meiner Hauptfigur Kiều, die ihren eigenen Namen nicht aussprechen kann und sich lieber Kim nennt, ist eine, in der sich viele Schüler:innen wiederfinden.
„Wahre Heimat“ – gibt es das?
Ich setzte mich zu zwei Mädchen und einem Jungen, die das Buch bereits gelesen hatten und mir dazu einige Fragen stellen wollten. Der Junge hatte vietnamesische Eltern, einen deutschen Namen und kannte keine andere Heimat als Singapur. Neben ihm saß eine Klassenkameradin, die in Deutschland aufgewachsen war und seit Jahren in Asien lebte. Und daneben eine Schülerin, die einen vietnamesischen Vater und eine deutsche Mutter hatte. Aus den Bemerkungen der drei hörte ich heraus, dass sie sich manchmal fragten, wo ihre „wahre Heimat“ liege.
„Als ich jünger war, habe ich mit meiner Identität auch gehadert“, sagte ich ihnen. „Aber inzwischen sehe ich als großes Geschenk, mehr als eine Kultur und eine Heimat zu haben. Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich dieses Buch nie schreiben können.“ Sie nickten langsam, ich sah, wie es in ihnen ratterte.
Als ich an dem Abend in meinen Flugzeugsitz sank und die Maschine ihren Kurs nach Berlin nahm, fühlte ich mich, als sei ich nicht fünf Tage auf Reisen gewesen, sondern zwei Monate. Noch immer konnte ich es nicht ganz glauben: Ich war ans andere Ende der Welt geflogen. Ich hatte in der Fremde lauter Gleichgesinnte getroffen. Und ich hatte von meinen Leser:innen gelernt, was das Schöne am Schreiben ist. Vielleicht ist das der Zauber am Reisen: dass man in der Ferne so viel über sich selbst erfährt. In den letzten zwei Jahren hatte ich das fast vergessen.
Zur Website des Instituts für Auslandsbeziehungen.
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