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Die Kantine der Hauptstadt

Ins Borchardt in Berlin-Mitte kommt man nicht zum Schnitzelessen. Jedenfalls nicht alleine.

06.11.2012
© picture-alliance/dpa

Wenn man wissen will, was gerade los ist in Berlin, muss man ins Borchardt gehen. Der frühere Kanzler Gerhard Schröder hat in dem Restaurant gerne sein Schnitzel gegessen, Kanzlerin Angela Merkel hat sich im Borchardt zu wichtigen Sitzungen mit dem Koalitionspartner getroffen und auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher kann man hier antreffen. Das Restaurant Borchardt in Berlin-Mitte ist so etwas wie die Kantine der Republik. Politiker planen hier ihre Strategien, Lobbyisten treffen sich mit Journalisten. Es liegt ganz in der Nähe des Regierungsviertels, Zeitungsredaktionen und Fernsehsender haben ihre Hauptstadtbüros in der Gegend. Während der Modemesse kommen die Designer, zum Filmfestival, der Berlinale, kommen die Filmstars. Im Borchardt beginnen und enden Liebschaften, es hat Ehen gestiftet und zerstrittene Brüder versöhnt.

In Los Angeles, sagt Besitzer Roland Mary, kenne man sein Restaurant als The Schnitzel Place. Für dieses Gericht ist das Restaurant berühmt. Überhaupt für seine eher deftigen, teilweise an die französische Küche angelehnten Speisen. Ums Essen geht es in diesem Restaurant aber nicht in erster Linie, schon eher ums Trinken. Es ist schwer zu erklären, warum diese Halle mit den hohen Säulen und den samtbezogenen Sitzen so ein magischer Ort ist. Berlin ist eine Stadt, die schwer zu fassen ist, aber in diesem Restaurant hat man das Gefühl, etwas von ihr begriffen zu haben. Vielleicht liegt es an der richtigen Mischung der Besucher, an der Nähe zur historischen Mitte.

„Die Mischung“, sagt Roland Mary, sei „überhaupt das Wichtigste an einem Restaurant.“ Ins Borchardt kommen Russen wie Amerikaner, Philosophen und Geschäftsleute. „Das ist Gastronomie, wie sie sein muss“, sagt Roland Mary. Das Borchardt ist ein Ort, der gegenwärtig ist und gleichzeitig schon Geschichte. Man sitzt und denkt, es könnte jeden Moment Leonardo DiCaprio hereinkommen. Er hat hier schon gegessen, genau wie Madonna. All ihre Gespräche hängen wie ein Raunen über dem Saal, und wer darunter sitzt, hat das Gefühl, daran teilzuhaben.

Man würde ja gern Fotos zeigen von all seinen berühmten Gästen, von Jack Nicholson, der beim Gang auf die Toilette alle Aufmerksamkeit auf sich zog und einen spontanen Applaus bekam, von Barack Obama, auf den ein weiblicher Gast einmal über die Sicherheitsleute hinweg zusprang, nur um ihn zu berühren. Aber diese Fotos gibt es nicht. Zur Berlinale zum Beispiel werden die Fenster zugeklebt, um die Berühmtheiten vor den Paparazzi zu schützen, nicht mal den Kellnern ist es gestattet, sich mit den Gästen fotografieren zu lassen. „Wenn über ein Lokal zu viel erzählt wird, dann ist das keine gute Gastronomie“, sagt Roland Mary, „weil dann jeder weiß, dass er dort nicht ungestört ist.“ Die Privatsphäre seiner Gäste ist Mary heilig.

Vorbild für das Borchardt, das schon im 
19. Jahrhundert ein bekanntes Weinlokal war, ist das La Coupole in Paris. Die Atmosphäre erinnert eher an ein Bistro denn an ein feines Restaurant. Es ist eher laut als leise, eher lebendig als ruhig, die Kellner sind aufmerksam, aber nicht bevormundend, den Wein kann man sich selbst nachschenken, die Flasche wird vom Kellner nicht wie in Sternerestaurants vom Tisch genommen.

Das Borchardt wird maßgeblich geprägt von seinem Besitzer. Er ist meist schon zu mittags hier und so gut wie jeden Abend. Oft sitzt Roland Mary mit Gästen an einem der Tische, jedoch ohne dabei aufdringlich zu sein. Er plaudert mit ihnen, als habe er sie zu sich nach Hause eingeladen. Roland Mary sieht elegant und gleichzeitig lässig aus, wie die Männer aus der italienischen Modewerbung. Er trägt fast immer Anzug, die obersten Knöpfe des Hemds darunter sind geöffnet.

Mary kam Anfang der 1980er-Jahre nach Berlin und fing als Kellner an in der Kneipe seiner damaligen Freundin. Als er kurz darauf sein erstes Lokal eröffnete, war er endlich angekommen. 1992 eröffnete er das Borchardt. Mary hat sich in den unterschiedlichsten Szenen bewegt, aber es gab keine, in der er es lange aushielt. Wahrscheinlich ist es das, was ihn zum idealen Gastgeber macht: Er kennt fast alle Szenen, er kann sich an seine Gäste anpassen wie ein Chamäleon. Die Gesellschaft ist sein Lebensraum. „Die Gastronomie ist genau das Richtige für mich“, sagt er, „als Wassermann kommuniziere ich gern.“ Manchmal hat das Borchardt auch etwas Künstliches, es ist eine Scheinwelt voller Prominenz und Medienleute. Dennoch schafft man es hier, die Balance zu halten. Man hat das Gefühl, dass jeder gleich behandelt wird, ob als Promi oder Minister. Oder einfach als Gast.

Borchardt Restaurant