Ein Leben ohne Teilung
1989 fiel die Mauer, 1989 kam unsere Autorin auf die Welt. Sie gehört zu der Generation, die das geteilte Deutschland nie erlebt hat.
Die Mauer begegnete mir das erste Mal, da war ich acht Jahre alt. Sie stand im Vorgarten eines Wohnhauses in Recklinghausen, einer Stadt im Ruhrgebiet. Hier im Westen Deutschlands bin ich aufgewachsen. Ich schaute das Stück Mauer an und es löste keinerlei Gefühle in mir aus. Einzig fand ich es kurios, dass manche Menschen lieber ein Stück Beton in den Garten stellen, als Blumen zu pflanzen.
Einige Jahre später ging ich an die Uni in Dortmund. Eine Kommilitonin kam aus einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, direkt am Meer. „Oh toll, Strand!“, dachte ich. „Ja, ich bin aus dem Osten“, sagt sie. Ich bin verdutzt. Darüber hatte ich nicht nachgedacht. Die Kategorien Ost- oder Westdeutschland existierten für mich schlicht nicht. Deutschland – das war für mich immer klar – ist ein Land.
Wenn ich jemanden kennenlernte, der aus einem der neuen Bundesländer kam, war das für mich lange nichts anderes, als wenn jemand aus Bayern oder Niedersachsen kam. Natürlich gibt es regionale Unterschiede. Doch letztlich teilen wir mehr als uns unterscheidet, dachte ich lange. Oder etwa nicht?
Seit meinen ersten Tagen an der Uni ist viel Zeit vergangen und Dinge sind passiert, die mich zwingen, den naiven Blick auf mein Heimatland zu überdenken: Fremdenfeindlichkeit in verschiedenen Formen wie Pegida, Freital, Chemnitz. Plötzlich versucht ganz Deutschland, „die Ostdeutschen“ zu verstehen. Gefühlt vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein schlauer Mensch in den Medien dazu befragt wird, warum die Ostdeutschen tun, was sie tun. Wie etwa in großer Zahl die rechte Partei AfD zu wählen.
Meine Sicht ist ein westdeutsches Privileg
Ich lerne, dass mein rosiger Blick auf Deutschland als Einheit ein westdeutsches Privileg ist. Professor Klaus Schröder leitet den Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin, er sagt: „Viele Ostler sagen, die Westler interessieren sich nicht für uns. Die haben kein Interesse an unserer Geschichte und an unseren Geschichten. Und das ist ja auch so.“ Er meint Leute wie mich. Die davon ausgehen, dass ihre persönliche Geschichte auch die aller Deutschen ist.
Denn die vermeintliche gesamtdeutsche Identität wird vor allem von Westdeutschen geprägt. Über Westdeutsche wird in den überregionalen Medien differenzierter und ausführlicher berichtet. Die Redaktionen aller großen überregionalen Medien sitzen in westdeutschen Städten. Der Osten scheint nur dann groß, wenn er Probleme macht.
Es gibt eher eine Grenze zwischen Arm und Reich
Mittlerweile lebe ich in Köln. Gerne würde ich weiterhin denken, dass Deutschland eins ist. Das wird immer schwieriger. Allerdings verläuft für mich die Trennlinie nicht an der ehemaligen Grenze, sondern zwischen wirtschaftlich und soziokulturell besser gestellten und weniger privilegierten Menschen. Meine Realität ist ein kinderreicher Stadtteil der Kölner Innenstadt. Man fährt auf Lastenrädern vorbei an kleinen Cafés. Das gibt es auch in Leipzig oder Jena im Osten. Genauso wie es Neonazis in Dortmund und AfD-Wähler in Gelsenkirchen weit im Westen des Landes gibt.
Damit Deutschland eins wird, muss jeder für sich lernen, unvoreingenommen und mit ehrlichem Interesse auf andere zuzugehen. In den letzten 30 Jahren ist Deutschland erwachsen geworden, jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns auch wie Erwachsene benehmen.
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