Der Schutz der Menschenwürde ist der Kern des Grundgesetzes
Der frühere Präsident des Verfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, spricht über die Stärken der deutschen Verfassung und weltweite Gefahren für die Demokratie.
Zwei Jahre nach der Verkündung des Grundgesetzes nahm das Bundesverfassungsgericht 1951 in Karlsruhe seine Arbeit auf. Seine Aufgabe ist es seither, über die Einhaltung der deutschen Verfassung zu wachen. Der Rechtswissenschaftler Andreas Voßkuhle war von 2010 bis 2020 Präsident des Gerichts. Im Interview spricht er über die Besonderheiten des Grundgesetzes, Verfassungspatriotismus in Deutschland und weltweite Gefahren für demokratische Verfassungen.
Herr Professor Voßkuhle, was zeichnet das Grundgesetz für Sie aus?
Die deutsche Verfassung ist eine gelungene Mischung aus Stabilität auf der einen und Flexibilität auf der anderen Seite. Sie war von Anfang an weit genug gefasst, um auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Zugleich war sie in ihrem Kern so klar, dass sie ein stabiles Fundament bilden konnte.
Was macht dieses stabile Fundament aus?
Der Charakter des Grundgesetzes wird durch Artikel 1 Absatz 1 bestimmt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser zentrale Gedanke durchzieht das ganze Grundgesetz. Was damit gemeint ist, kommt fast noch besser im Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee im Jahr 1948 zum Ausdruck. In diesem Verfassungsentwurf, der die Grundlage für die Arbeit des Parlamentarischen Rats am Grundgesetz darstellte, heißt es in Artikel 1: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“
Als das Grundgesetz 1949 verabschiedet wurde, war es angesichts der deutschen Teilung bewusst als Provisorium angelegt. Seit der Wiedervereinigung 1990 gilt es für ganz Deutschland. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieses einstigen Provisoriums?
Das Grundgesetz war schon vor 75 Jahren eine moderne Verfassung. Das gilt vor allem für den starken Schutz der Grundrechte. Mit dem Verfassungsgericht wurde zudem eine Institution geschaffen, die diese Grundrechte in der Praxis durchsetzen konnte. Das Grundgesetz schuf darüber hinaus die Grundlagen für das Prinzip einer wehrhaften Demokratie, in der etwa mit einem Parteiverbot die Feinde der Demokratie bekämpft werden können. Dazu kommt, dass die Verfassung von Anfang an in Richtung Europa ausgerichtet war.
In Deutschland ist oft vom Verfassungspatriotismus die Rede. Was bedeutet das und wie hat das Grundgesetz die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten geprägt?
Nach dem moralischen Versagen in der Zeit des Nationalsozialismus gab das Grundgesetz die Möglichkeit, sich für Demokratie, Menschenrechte, Europäische Integration und ein gerechtes, rechtsstaatliches Staatswesen auszusprechen. Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik allein schon durch den Föderalismus eine sehr plurale Gesellschaft ist. In einer solchen Gesellschaft braucht es einen Grundkonsens, auf dem Vielfalt gedeihen kann. Und dieser Konsens war und ist das Grundgesetz.
Welche Gefahren sehen Sie heute für das Grundgesetz und andere demokratische Verfassungen?
Ich sehe die Gefahr, dass die Voraussetzungen für die Demokratie unterlaufen werden. Demokratie ist nicht nur ein Wahlakt. Sie soll gewährleisten, dass die Minderheit eine realistische Chance hat, zur Mehrheit zu werden. Dafür braucht es unter anderem Oppositionsrechte, den Schutz von Minderheiten, Grundrechte wie die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit, starke Verfassungsgerichte sowie unabhängige Medien.
In vielen Ländern in Europa und auf der ganzen Welt können wir beobachten, dass zwar nicht die Wahlen abgeschafft werden, aber diese Voraussetzungen für eine funktionsfähige Demokratie mit dem Ziel, die dauerhafte Herrschaft einer Partei zu ermöglichen. Bisher ist das in Deutschland nicht der Fall. Aber es wäre naiv zu glauben, dass wir auf einer Insel der Glückseligen leben.
Sie sind Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Was können Bürgerinnen und Bürger dazu beitragen, die Demokratie zu schützen und zu stärken?
Es geht vor allem um die sogenannte stille Mitte oder das sogenannte unsichtbare Drittel. Das sind die Menschen, die nicht zum rechtsradikalen Lager zählen – diesem werden in Deutschland aktuell ungefähr zwischen fünf und acht Prozent der Wählerinnen und Wähler zugerechnet–, die sich aber zum Teil von der Demokratie abgewendet haben, sei es aus Enttäuschung, Wut oder auch Desinteresse. Diese Menschen gilt es, zurückzugewinnen. Demokratie fängt vor der eigenen Haustür an, im Gespräch mit dem Nachbarn, bei der Arbeit oder am Stammtisch. Dort können wir erklären, dass unser demokratisches System zwar nicht perfekt ist, aber die Freiheit aller am besten schützt. Als Verein versuchen wir deshalb, über die Demokratie ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel durch Ausbildung von Demokratiepaten in Schulen oder in der Polizei oder durch die Einrichtung von Gesprächscafés.
Solche Gespräche können sehr schwierig sein.
Ja, das ist anstrengend. Aber Demokratie erfordert Engagement. Das ist nicht anders, als wenn sie morgens joggen wollen und es regnet. Auch beim Einsatz für die Demokratie muss ich mich manchmal überwinden, mich auf ein Gespräch einzulassen, auf das ich keine Lust habe, und mich mit unangenehmen Fragen auseinanderzusetzen. Und wir müssen wieder lernen, besser zuzuhören. Ich habe den Eindruck, dass insgesamt zu viel gesendet und zu wenig zugehört wird.
Wie sehen Sie die Zukunft der Demokratie angesichts der derzeitigen Herausforderungen?
Ich bin angesichts der skizzierten Entwicklungen beunruhigt. Es gibt keine Garantie dafür, dass unsere freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung dauerhaft überlebt. Demokratie braucht Demokraten, die sich für sie einsetzen. Die großen Protestveranstaltungen Anfang 2024 in Deutschland gegen Rechtsradikalismus zeigen aber, dass viele Bürgerinnen und Bürger, dazu bereit sind. Das gibt Hoffnung.