„Anatolischer Schwabe“ wird Minister
Cem Özdemir ist der erste Bundesminister mit türkischen Wurzeln. Ein Blick auf seinen Lebensweg und seine politischen Positionen.
Als Cem Özdemir 1994 als 28-Jähriger erstmals in den Deutschen Bundestag einzog, ging Helmut Kohl in seine letzte Amtsperiode als Bundeskanzler, die deutsche Wiedervereinigung lag gerade einmal vier Jahre zurück und Bundesminister aus Özdemirs Partei Bündnis 90/Die Grünen hatte es zu diesem Zeitpunkt noch nie gegeben. Der Grünen-Politiker ist aber nicht nur schon lange in der deutschen Politik aktiv, sondern gehört auch zu ihren prägenden Köpfen. Seit Dezember 2021 ist Özdemir nun als Landwirtschaftsminister der neuen Bundesregierung der erste Bundesminister mit türkischen Wurzeln.
Kind türkischer Gastarbeiter
Cem Özdemir wurde 1965 im schwäbischen Bad Urach als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren. Sein Vater stammte aus einem anatolischen Dorf in der Nähe von Tokat, seine Mutter aus Istanbul. Özdemirs Vater Abdullah arbeitete unter anderem in einer Feuerlöscherfabrik. Er verstarb 2015, die Mutter Nihal Özdemir im August 2021, wenige Wochen vor der Bundestagswahl. Sie hatte in Deutschland in einer Papierfabrik gearbeitet, später eröffnete sie eine Änderungsschneiderei. Cem Özdemir betont: „Meinen Eltern verdanke ich alles.“
Pionier im Bundestag
Schon früh engagierte sich Cem Özdemir für andere. In der Realschule, auf die er in der sechsten Klasse von der Hauptschule gewechselt war, war er als Schülervertreter aktiv. Nach Ausbildung und Arbeit als Erzieher holte er die Fachhochschulreife nach und studierte Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen. Seinen Abschluss machte er 1994, im selben Jahr zog er erstmals in den Bundestag ein. Da war Özdemir schon lange Mitglied der Grünen. Als 15-Jähriger war er in die Partei eingetreten; in seiner Heimatstadt Bad Urach gründete er einen Ortsverband. 1994 wurden Cem Özdemir und die SPD-Politikerin Leyla Onur die ersten Bundestagsabgeordneten mit türkischen Wurzeln. Özdemir befasste sich unter anderem mit Einwanderungspolitik und setzte sich für vereinfachte Einbürgerungsverfahren ein. Er selbst hatte die deutsche Staatsbürgerschaft mit 18 Jahren erhalten.
Aufstieg an die Parteispitze
1998 wurden die Grünen Teil der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Özdemir wurde innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion seiner Partei. Er setzte sich dabei unter anderem erfolgreich für eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ein: Seit dem 1. Januar 2000 erwerben unter bestimmten Voraussetzungen auch Kinder, die nicht deutscher Abstammung sind, die deutsche Staatsangehörigkeit mit ihrer Geburt. Özdemir übernahm in den Folgejahren verschiedene Ämter seiner Partei, in der er als Vertreter des realpolitischen Flügels gilt. Von 2008 bis 2018 war er einer von zwei Bundesvorsitzenden der Grünen. Als Abgeordneter war er von 2018 bis zur Bundestagswahl 2021 Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Politik auch mit Blick auf die Türkei
Für Cem Özdemir ist die Türkei nicht nur das Land seiner Eltern. Lange hat er sich für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei stark gemacht, sich aber auch oft kritisch geäußert, insbesondere mit Blick auf zunehmende Repressionen unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Özdemir stand maßgeblich hinter der Resolution des Bundestags 2016, in der die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich als Genozid bezeichnet wurde. Persönlichen Polizeischutz hat Özdemir schon wiederholt erfahren, sowohl vor deutschen Rechtsradikalen als auch vor türkischen Nationalisten. In einer Gesprächsrunde der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu deutsch-türkischen Biografien sagte der Politiker 2021: „Ich könnte es mir auch einfacher machen. Wissen Sie, ich will nicht immer sagen, was die sogenannten eigenen Leute gerade hören wollen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen.“
Minister ohne Konfliktscheu
Unbequem wird Cem Özdemir wohl auch als Bundeslandwirtschaftsminister sein. Für viel Aufsehen sorgte Ende 2021 seine Kampfansage an billiges Fleisch in Supermärkten, die Kritiker mit Sorgen vor sozialen Folgen konterten. Viele hatten den überzeugten Radfahrer Özdemir eher als neuen Bundesverkehrsminister erwartet, landwirtschaftliche Themen sind ihm aber nicht fremd. So setzte er sich etwa schon vor Jahren gegen Massentierhaltung ein.
Ein „anatolischer Schwabe“
Noch heute wird Cem Özdemir immer wieder nach kultureller Zugehörigkeit gefragt. Auch mit Blick auf seine „Multikulti-Familie“: Er und seine Frau Pia Castro, eine argentinisch-deutsche Journalistin, sind Eltern einer Tochter und eines Sohns. Der 56-Jährige hat für sich eine entspannte Antwort gefunden, auf seiner Website schreibt er: „Wenn es um Fragen der Identität geht, kann man es ohnehin nicht allen recht machen. Das wäre Sisyphusarbeit. Ich habe gelernt, darüber zu schmunzeln, wenn andere besser wissen als ich selbst, wer ich bin. Im Zweifelsfall erzähle ich augenzwinkernd, ich sei ‚anatolischer Schwabe‘.“