Hilfe für Menschen im Gazastreifen
Die Israelin Tom Kellner und die Palästinenserin Seba Abu Daqa helfen mit ihrem Projekt „Clean Shelter“ Geflüchteten in Gaza – und wurden dabei Freundinnen.
Seba Abu Daqa lässt Herzchen-Emojis über ihr Zoom-Fenster regnen. Die Geste ist an Tom Kellner gerichtet. Täglich tauschen sich die Palästinenserin und die Israelin aus. So oft, dass ihre Familien eifersüchtig seien, scherzen die Frauen. Dabei geht es meist um ihr Projekt „Clean Shelter“, mit dem sie bisher etwa tausend Toiletten, Duschen, Zelte und Gemeinschaftsräume aufbauen konnten, um gut 2.000 geflüchteten Familien im Gazastreifen den Alltag etwas erträglicher zu machen.
Selbst über den Bildschirm ist die Wärme zwischen den beiden zu spüren. „Wir haben eine sehr ähnliche Sicht auf die Welt“, sagt Kellner. Sie arbeitet in Berlin als Cellistin und Dozentin für Literatur, hat zwei Töchter. Abu Daqa wohnt in München und ist Beraterin bei einer Nichtregierungsorganisation für Frauenrechte. Beide sind Jahrgang 1982, doch dass sie sich in Deutschland angefreundet haben, ist alles andere als selbstverständlich. Abu Daqa ist im südlichen Gazastreifen aufgewachsen, Tom Kellner in einer Kleinstadt im Norden Israels.
Hoffnung in der Katastrophe
Kennengelernt haben sie sich ausgerechnet am 8. Oktober 2023, einen Tag, nachdem Hamas-Terroristen den Grenzzaun nach Israel durchbrachen, 1.160 Menschen töteten und etwa 250 Geiseln verschleppten. Angefreundet haben sie sich ausgerechnet in diesem vergangenen Jahr, auch unter dem Eindruck schrecklicher Nachrichten aus dem von Israel bombardierten Gazastreifen. In einer Zeit, in der sich Israelis und Palästinenser auch in Deutschland nicht ferner hätten sein können.
Tom Kellner und Seba Abu Daqa gehören zu 17 Israelis und Palästinensern, die sich auf ein Begegnungsprojekt eingelassen haben. Inspiriert von einem arabisch-jüdischen Friedensdorf in Israel beschloss der Veranstalter Slieman Halabi, auch in Deutschland einen Raum für Dialog zu schaffen. Der Termin für die erste Videokonferenz war lange geplant: der 8. Oktober 2023. Alle befanden sich im Schockzustand – doch alle 17 nahmen teil.
Herausforderungen und Hilfe während der ersten Kriegsmonate
„Die ersten Kriegsmonate waren ein Alptraum“, sagt Abu Daqa. Ihre Mutter, die inzwischen nach Ägypten ausreisen konnte, engagierte sich damals noch für ein Hilfsprojekt. Ihr Vater, der sich bis heute nicht von seiner Heimat trennen will, suchte in den Trümmern nach überlebenden Hühnern. Als das Internet fünf Tage lang ausfiel, konnte sie nur das Schlimmste annehmen. Dann flutete der Winterregen die Ruinen. Abu Daqa wollte aktiv werden – und Kellner bot ihre Hilfe an. Im Kontakt mit Abu Daqas Familie wurde klar, was am dringendsten benötigt wurde: trockener Unterschlupf, Trinkwasser – und Sanitäranlagen. Um die Ausbreitung von Krankheiten einzudämmen, aber auch um einen Quadratmeter Privatsphäre zu schaffen.
Gali Blay, eine andere Israelin aus der Dialoggruppe, erstellte eine Homepage, und Tom Kellner begann über ihr Netzwerk Spenden zu sammeln. Ihre palästinensische Partnerin konnte nicht glauben, wie viele Israelis bereit waren, für Gaza zu spenden. „Das hat mich sehr berührt“, sagt Seba Abu Daqa. Mit ihrem Anliegen erreichen sie Menschen auf der ganzen Welt, die größten Spenden stammen aus den USA. Aber gut die Hälfte der Spenderinnen und Spender sind israelischer Nationalität.
Angepasste Hilfe für knappe Ressourcen
Sie selbst baute unterdessen über ihre Kontakte in Gaza ein Team aus Helfern auf. Ihre erste Mission war es, Sanitärkabinen mit Toilette und Dusche zu konstruieren. Ein Ort, um die Hygiene zu wahren, aber auch die Würde. In den beengten Lagern ist das vor allem für Frauen und ältere Menschen ein Thema. Gleichzeitig errichteten die Helfer in Kooperation mit einer anderen Organisation ein eigenes Zeltlager.
Weil es kaum möglich ist, Material in den Gazastreifen hineinzubringen, müssen die Palästinenser mit dem arbeiten, was der Markt hergibt: Das ist immer weniger, und es wird immer teurer. „Aber es ist unglaublich, wie kreativ Menschen in der Krise werden“, sagt Abu Daqa. Ihr Team-Manager vor Ort, der Bauingenieur Ahmed Sherif, sei ständig unterwegs, halte die Augen offen – und habe bisher immer eine alternative Lösung gefunden. Zum Beispiel ein selbstgebautes Röhrensystem, um Waschwasser aus einem Nachbarcamp zu leiten. Bisher sei es ihnen gelungen, alles in Gaza zu organisieren oder im Notfall selbst produzieren zu lassen, wie das Reinigungsmittel für die Toiletten: Inzwischen werden damit auch andere Camps versorgt.
Die neueste Errungenschaft ist eine kleine solarbetriebene Entsalzungsanlage. „Damit können wir immerhin für etwa 250 unserer Familien sauberes Wasser aufbereiten“, sagt Kellner. Bisher gehe nämlich ein Großteil der eingesammelten Spenden für den bloßen Einkauf von Trinkwasser drauf.
Weil das Team vor Ort auf nahezu freiwilliger Basis arbeitet, ist von deutscher Seite aus viel Fingerspitzengefühl gefragt. Schnell merkten sie, dass es wenig Sinn macht, sich vorgefertigte Lösungen auszudenken, sagt Abu Daqa: „Die Leute sagten anfangs zu allem ‚Ja‘.“ Es schmerzt sie, wie sehr die Palästinenser in Gaza es gewohnt seien, dass ihnen Leute aus dem Ausland erklärten, was gut für sie sei. „Sie verlieren ihr Selbstbewusstsein und damit die Motivation.“ Inzwischen jedoch trauten sich ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu sagen, was genau sie in Gaza brauchen, und die Gründerinnen in Deutschland haben gelernt, Verantwortung abzugeben.
Spontane Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen
„Die Bedingungen vor Ort ändern sich oft von einer Minute auf die andere, und damit auch die Bedürfnisse.“ Gerade planen sie auf Wunsch des Teams ein neues Lager, gleichzeitig wollen sie so spontan wie möglich auf die aktuellen Krisen reagieren können. Das kann ein plötzlicher Evakuierungsbefehl durch die israelische Armee sein – aber auch ein akuter Läuseausbruch. „Gut 50 Euro kostet ein Läuseshampoo derzeit“, sagt Kellner.
Das gesammelte Wissen und ihr aufgebautes Netzwerk teilen sie gern, sagt Kellner. Die Priorität von Clean Shelter bleibe jedoch bei den Sanitäranlagen. „In Gaza sterben derzeit mehr Menschen durch Krankheiten und mangelnde Hygiene als durch die Angriffe“, sagt Abu Daqa. Allein die Folgen der Mangelernährung werden der Bevölkerung noch lange nachhängen. „Es ist sehr frustrierend, nicht mehr machen zu können. Aber wir müssen von Tag zu Tag denken.“
Eine Vision für ein Gaza nach dem Krieg erlaubt sich nur Kellners sechsjährige Tochter. Sie habe kürzlich ein Bild gemalt, wie sie sich den Frieden vorstellt: große Häuser mit vielen Tieren, Gemüsegärten – und jede Menge Toiletten.