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Die Hälfte des Himmels

Frauen in Deutschland: Für sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel bewegt. Nie waren sie besser gebildet, nie freier. Doch der Weg zur Gleichberechtigung ist kurvenreich.

Sarah Kanning, 22.09.2015

Wenn sich Aysel Kluth an die Geburt ihres zweiten Kindes erinnert, erzählt sie gerne von einer Episode, die typisch ist für die Unternehmerin aus Berlin: dass sie noch auf dem Weg in den Kreißsaal das Handy in der Hand hielt, E-Mails abrief und die letzten Anweisungen durchgab. „Als Geschäftsführerin fühle ich mich verantwortlich für meine Arbeit und muss die Fäden in der Hand halten“, sagt Aysel Kluth, eine zierliche Frau mit dichten dunklen Haaren und offenem Lächeln. „Ich habe ständig das Handy in der Hand – meine Kinder und meinen Mann stört das schon manchmal.“

Aysel Kluths Biografie ist eine Geschichte, wie sie in Deutschland auch knapp 30 Jahre nach Gründung des Bundesfrauenminis­teriums und 20 Jahre nach der Pekinger Aktionsplattform zur Gleichstellung etwas Besonderes ist: Aysel Kluth ist in der Türkei geboren, holte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach. Vor knapp zehn Jahren gründete sie die Vermittlungsagentur „Pünktchen“ für Haushaltshilfen und Kinderfrauen in Berlin und gehört damit zu den sogenannten mompreneurs – den Frauen, die „Mom“ und „Entrepreneur“ zugleich sind. Sie ist 37 Jahre alt, hat drei kleine Kinder und arbeitet in Vollzeit etwa 50 Stunden in der Woche.

Aysel Kluth ist etwas Besonderes, weil sie gleich mehrere Facetten in sich vereint, die im Hinblick auf die Gleichstellung relevant sind: Sie ist jung, Karrierefrau und Unternehmerin, aber auch dreifache Mutter mit Migrationshintergrund. Mit jeder dieser Facetten spiegelt sie einen Aspekt deutscher Politik und Netzwerke wider, die sich dafür einsetzen, dass Männer und Frauen, so unterschiedlich ihre Herkunft und Biografie auch sein mag, im Privaten und im Beruflichen die gleichen Chancen haben. Nach aktuellen Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums wurde im Jahr 2012 mehr als jedes dritte Unternehmen von einer Frau gegründet – Initiativen der Bundesregierung wie das Rückkehrprogramm „Perspektive Wiedereinstieg“ oder das „FRAUEN unternehmen“-Netzwerk unterstützen sie dabei. Das Recht auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab zwölf Monaten und die Zusage, dass der Arbeitsplatz während der Elternzeit bis zu drei Jahre lang gesichert ist, erleichtert Müttern die Rückkehr in den Beruf. Die Erwerbstätigenquote von Müttern stieg allein zwischen dem Jahr 2000 und 2012 insgesamt um 7,4 Prozentpunkte.

Zwar ist Kinderbetreuung in Deutschland noch immer weitgehend Frauensache – so nahm im Jahr 2013 beispielsweise nur etwa ein Drittel der Männer überhaupt Elternzeit und davon wiederum nur jeder fünfte Mann länger als zwei Monate. Doch in den Köpfen findet ein Veränderungsprozess statt: Mehr als zwei Drittel der Eltern gaben in einer Befragung des Allensbach-Instituts an, dass sie es schön fänden, wenn beide arbeiteten. Das vor allem in Westdeutschland lange gängige Modell des „Einverdieners“ befürwortet laut Mikrozensus nur noch jede fünfte Familie. Das 2015 eingeführte ElterngeldPlus unterstützt Paarkonstellationen, in denen beide nach der Geburt eines Kindes in Teilzeit ins Berufsleben zurückkehren wollen.

Rückblende: Es ist September 1995, vierte Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Peking. 6000 Delegierte aus 189 Ländern sind geladen, Feminis­tinnen aus Deutschland beschreiben die Konferenz später als „politische Zäsur“. Die Delegierten verabschieden eine Ak­tionsplattform, in der das Konzept der sexuellen Selbstbestimmung der Frau, Lösungen gegen Gewalt gegen Frauen und Schutz ihrer Rechte enthalten sind. Etwa zur gleichen Zeit wandelt sich in der Bundesrepublik die „Frauenpolitik“ zu einer „Gleichstellungspolitik“.

Jutta Allmendinger ist Professorin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Sie untersucht die Ungleichheit der Geschlechter in der Arbeitswelt speziell in Fragen der Arbeitsorganisation und ist eine wichtige Stimme in der Gender- und Quotendiskussion. „Heute meistern die meisten Frauen in Deutschland ihr eigenes Leben“, sagt sie. „Sie sind öffentlich sichtbar und haben Einfluss, in Politik, Medien, mittlerem Management.“ Ihrer Meinung nach bleibt trotzdem noch viel zu tun, bis beide Geschlechter gleichberechtigt leben und arbeiten: „Die Arbeitslöhne und Arbeitszeiten unterscheiden sich sehr. Frauen in Führungspositionen sind selten. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist nach wie vor Frauensache.“

Als wenige Jahre vor der Weltfrauenkonferenz 1995 unter der CDU-Politikerin Rita Süssmuth das deutsche Bundesminis­terium für Jugend, Familie und Gesundheit um den Fachbereich „Frauen“ erweitert wurde, war Jutta Allmendinger 31 Jahre alt und wurde gerade an der Harvard-Universität in den USA promoviert. „Ich musste mich entscheiden: bleiben oder gehen“, erinnert sie sich. In den USA sei manches selbstverständlicher gewesen. „Viele Professorinnen brachten ihre kleinen Kinder an die Uni mit, Kinder wurden auch früh außer Haus betreut.“ Eine Frauenministerin sei ihr wie ein Versprechen vorgekommen. „Endlich“, habe sie zu ihren Freunden gesagt. Der Weg zurück sei ihr dann leichter gefallen.

Gleiche Möglichkeiten, unabhängig vom Geschlecht – das ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht relevant. Allein die gestiegene Erwerbstätigenquote von Müttern steigert das deutsche Bruttosozialprodukt um 4,7 Milliarden Euro und stabilisiert soziale Sicherungssysteme. Im Jahr 2014 erreichte Deutschland das nationale Ziel im Rahmen der Europa-2020-Strategie, die Erwerbstätigenquote für Frauen auf 73 Prozent (73,1) zu steigern. Noch viel zu oft ist der Arbeitsmarkt für Frauen in Deutschland jedoch eine Teilzeitdomäne: 2014 arbeitete fast jede zweite erwerbstätige Frau zwischen 15 und 64 Jahren (46 Prozent) weniger als 32 Stunden pro Woche, ermittelte das Statistische Bundesamt. Bei Müttern ist der Anteil noch höher: Knapp 70 Prozent von ihnen arbeitete im Jahr 2014 nicht voll, jede fünfte Mutter sogar weniger als 15 Stunden pro Woche. Für Alleinerziehende – in neun von zehn Fällen handelt es sich um Frauen – ist alles noch komplizierter. Die Flexibilität fehlt, Betreuungs­angebote passen sich erst langsam den veränderten Erwerbsbiografien an. Etwa 40 Prozent aller Alleinerziehenden brauchen staatliche Unterstützung – bei Familien mit zwei Elternteilen sind es nur acht Prozent.

Matthias und Judith Göbel aus Hessen gehören zu den drei Prozent der Familien in Deutschland, in denen die Frau mehr Stunden arbeitet als der Mann – und mehr verdient. Nachdem ihre Tochter Alba im September 2011 geboren 
wurde, pausierte Judith Göbel zehn Monate. Dann stieg die Grundschullehrerin wieder Vollzeit ein. „Eine Schule in Teilzeit kennenzulernen ist fast nicht möglich“, sagt sie. Zudem hatten sie und ihr Mann entschieden, die Tochter gemeinsam aufzuziehen. Matthias Göbel nahm vier Monate Elternzeit, arbeitete danach zehn Monate in Teilzeit und bleibt seither einen Tag in der Woche zu Hause. Judith Göbel ist zur Rektorin aufgestiegen.

Nie zuvor waren Frauen in Deutschland besser ausgebildet – doch in Führungspositionen sind sie nach wie vor unter­repräsentiert. Die „leaky pipeline“ lässt sich beispielsweise in der Wissenschaft sehr offen nachverfolgen: Im Jahr 2013 waren 54,6 Prozent der Abiturienten und 50,8 Prozent der Universitätsabsolventen weiblich. Nur noch 27,4 Prozent der Habilitationen werden jedoch von Frauen geschrieben, nur jede fünfte Professur hat eine Frau inne. Mit dem Professorinnenprogramm fördern Bund und Länder Gleichstellungsmaßnahmen an den Universitäten und Stellen für weiblich besetzte Professuren.

Auch der Bundestag hat nun reagiert: Um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen, verabschiedete er 2015 das Gesetz zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst – die „Frauenquote“. In Aufsichtsräten von 108 börsen­notierten Unternehmen müssen künftig mindestens 30 Prozent Frauen vertreten sein. Vom 1. Januar 2016 an gilt: Finden die Unternehmen keine Frau für den 
Posten, bleiben die Plätze rechtlich unbesetzt, man spricht vom „leeren Stuhl“. 


Ein Umdenken, das Claudia Neusüß absolut notwendig findet: „Bis zum ersten Berufseinstieg sind junge Männer und Frauen in Deutschland gleichauf, danach geht die Schere auseinander“, sagt die 54-Jährige, die mit ihrer Agentur „compassorange“ öffentliche und privatwirtschaftliche Unternehmen in Fragen der Vielfalt berät. In den 1980er-Jahren war sie Mitgründerin der größten Frauengenossenschaft Europas, des Gründe­rinnenzentrums „WeiberWirtschaft“ in Berlin. Nach dem Motto: von Frauen für Frauen. Denn Politik könne Veränderungen nur flankieren, umsetzen müsse jedes System sie selbst.

In der Politik haben sich die Parteien teilweise schon vor Jahrzehnten mit Quoten beholfen, um ihre Partei vielfältiger aufzustellen: Die Grünen entschieden bei ihrer Parteigründung 1979, dass mindestens die Hälfte aller Ämter weiblich besetzt sein sollte. In der SPD gilt eine 40-Prozent-Quote. Die CDU beschloss 2010, oberhalb der Orts- und Kreisverbände 40 Prozent der Gremien mit Frauen zu besetzen. Der Bundestag, in dem es anders als im Parlament Belgiens oder Frankreichs keine Kandidatenquoten gibt, erreichte im Jahr 2014 seinen bisherigen Höchststand mit 36,1 Prozent Frauenanteil. Und schließlich steht ja auch an Deutschlands Spitze seit zehn Jahren eine Frau: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Buchtipp:

Claudia Neusüß, Katja von der Bey (Hg): „Unsere Luftschlösser haben U-Bahn-Anschluss. WeiberWirtschaft – eine Erfolgsgeschichte“, WeiberWirtschaft eG, Berlin, Januar 2015. 126 Seiten, 10 Euro.