Ein Blick auf Europa aus Deutschland
Bei aller Mühsal, die EU muss fähig und willens werden, die europäischen Interessen in der Welt auch zu vertreten, sagt Ulrich Ladurner von der Wochenzeitung Die Zeit.
Wir haben Journalisten aus europäischen Staaten nach der Zukunft Europas gefragt – lest hier die Antwort von Ulrich Ladurner. Er schreibt für die deutsche Wochenzeitung Die Zeit.
Deutsche sind überzeugte Europäer, weil sie aus ihrer Geschichte die richtigen Lehren gezogen haben. Das ist ein Satz, den man häufig hört. So richtig er sein mag, man kann ihn auch anders lesen. Europa bot den Deutschen die Möglichkeit, der eigenen Geschichte zu entkommen. Das ist ein wenig zugespitzt formuliert. Doch in keinem anderen europäischen Land wird Europa so radikal als Projekt zur Überwindung des Nationalstaates verstanden. Ganz so, als sei er die Ursache allen Übels. Dabei gerät in Vergessenheit, dass viele Europäer im Namen ihre Nation Widerstand gegen die Nationalsozialisten geleistet haben. Mit Blick auf diese Tatsache sollte Deutschland etwas mehr Realismus und Augenmaß zeigen. Deutsche Erwartungen an Europa, das sind sehr häufig nicht die Erwartungen der anderen Europäer. Ein Blick über den Tellerrand würde Deutschland gut tun.
Die Europäische Union mag auf dem Weg zu einem Bundesstaat sein, doch der Weg dahin ist lange und mühsam, und es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass er je an ein Ende kommt. Die Europäische Union ist klassisches „work in progress“ mit offenem Ausgang. Deshalb ist es auch müßig, sich über das Ziel zu unterhalten, viel lohnender ist es, die Aufgaben anzupacken, die anstehen. Die Themen liegen für alle sichtbar auf dem Tisch: Klima, Digitalisierung, Migration, Verteidigung.
Es heißt immerzu, dass diese Themen nur gemeinsam, nur europäisch gelöst werden können. Das ist allerdings ein Glaubenssatz, der mit Inhalt gefüllt werden muss. Auch hier ist Realismus gefragt. Die Europäische Union wird nicht morgen schon DIE Lösung bei diese Themen anbieten. Aber sie wird vorankommen, schneckenhaft vielleicht, aber voran. Dabei müssten die Europäer das Gefühl bekommen, dass bei aller Langsamkeit, bei aller Mühsal, die EU sich die Fähigkeiten zulegt, ihre Interessen in der Welt wirksam zu vertreten. Europa muss souverän sein, wenn es frei bleiben will. Wie diese Souveränität zu erreichen ist, darauf gibt es Tag für Tag eine Teilantwort – mehr ist nicht zu erwarten, aber auch nicht weniger. Wer ungeduldig ist, der sollte sich eines vergegenwärtigen: Europa ist die Idee, dass Nationalstaaten zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten, mal intensiv, mal weniger intensiv. Das klingt prosaisch, aber eine bessere Idee ist bisher nicht im Angebot.
Ulrich Ladurner, geboren 1962 in Südtirol, seit 1999 Auslandsredakteur der Wochenzeitung Die Zeit. Mehr als zwei Jahrzehnte berichtete er von Kriegsschauplätzen. Seit 2016 ist er Europakorrespondent der Zeit in Brüssel. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht.
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