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Die Zweistaatlichkeit Deutschlands

Eine zweite Chance in Sachen Demokratie erhielt nach 1945 nur ein Teil Deutschlands: der westliche.

Heinrich August Winkler, 17.09.2018
Die Zweistaatlichkeit Deutschlands
© picture alliance / UPI

Ver­treter der frei gewählten Länderparlamente der amerikanischen, der britischen und der französischen Besatzungszone arbeiteten 1948/49 im Parla­men­tarischen Rat in Bonn eine Verfassung aus, die systematische Konsequenzen aus den Konstruk­tions­fehlern der Reichsverfassung von 1919 und dem Scheitern der Weimarer Republik zog: das Grund­gesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Die zweite deutsche Demokratie sollte eine funktionstüchtige parlamentarische Demokratie mit einem starken, nur durch ein „konstruktives Miss­trauensvotum“, also die Wahl eines Nachfolgers, stürzbaren Bundeskanzler und einen kompetenzarmen Bundes­präsi­denten sein. Eine konkurrierende Gesetzgebung durch das Volk war, anders als in Weimar, nicht vorgesehen. Offenen Gegnern der Demokratie sagte das Grundgesetz vorsorglich einen Kampf bis hin zur Verwirkung der Grundrechte und zum Verbot verfassungsfeindlicher Parteien durch das Bundesverfassungsgericht an. Die Grundlagen des Staates wurden so festgeschrieben, dass sie dem Willen auch einer verfassungsändernden Mehrheit entzogen waren, eine „legale“ Beseitigung der Demokratie wie 1933 also unmöglich war.

Während der Westen Deutschlands „antitotalitäre“ Lehren aus der jüngsten deutschen Vergangenheit zog, muss­te sich der Osten, die Sowjetische Besatzungszone und spätere DDR, mit „antifaschistischen“ Folgerungen begnügen. Sie dienten der Legi­timie­rung einer Parteidiktatur marxistisch-leninistischer Prägung. Der Bruch mit den Grundlagen der nationalsozialistischen Herrschaft sollte vor allem auf klassen­poli­tischem Weg, durch Enteignung von Großgrundbesitzern und Industriellen, vollzogen werden. Einstige „Mitläufer“ des Nationalsozialismus konnten sich dagegen beim „Aufbau des Sozialismus“ bewähren. Frühere „Parteigenossen“ der NSDAP, die nach Abschluss der „Entnazifizierung“ in führende Positionen gelangten, gab es auch in der DDR. Ihre Zahl war jedoch geringer und ihre Fälle waren weniger spektakulär als in der Bundesrepublik.

Von einer „Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“ würde man rückblickend wohl kaum sprechen können, wenn es nicht das Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre, die längste Boomperiode des 20. Jahrhunderts, gegeben hätte. Die Hochkonjunktur verschaffte der von Ludwig Erhard, dem ersten Bundes­wirt­schafts­minister, durchgesetzten Sozialen Marktwirtschaft die Legitimation durch Erfolg. Sie erlaubte die rasche Eingliederung der fast acht Millionen Heimatvertriebenen aus den früheren Ostgebieten des Deutschen Reiches, dem Sudetengebiet und anderen Teilen Ostmittel- und Südosteuropas. Sie trug entscheidend dazu bei, dass Klassen- und Konfessionsgegensätze abgeschliffen wurden, dass die Anziehungskraft radikaler Parteien beschränkt blieb und die großen demokratischen Parteien, erst die Christlich Demokratische (CDU) und die Christlich Soziale Union (CSU), dann die Sozial­demo­kratie (SPD), sich in Volksparteien verwandelten. Die Prosperität hatte freilich auch ihre politische und moralische Kehrseite: Sie erleichterte es vielen Bundesbürgern, sich bohrende Fragen nach der eigenen Rolle in den Jahren 1933 bis 1945 weder selbst zu stellen noch von anderen stellen zu lassen. „Kommunikatives Beschweigen“ hat der Philosoph Hermann Lübbe diesen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit genannt (und als für die Stabilisierung der westdeutschen Demokratie notwendig bewertet).

In der Weimarer Republik war die Rechte nationalistisch und die Linke inter­natio­na­lis­tisch gewesen. In der Bundesrepublik war es anders: Die Kräfte der rechten Mitte unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) standen für eine Politik der Westbindung und der supranationalen Inte gration Westeuropas; die gemäßigte Linke, die Sozialdemokratie unter ihrem ersten Nach­kriegs­vor­sitzenden Kurt Schumacher und seinem Nachfolger Erich Ollenhauer, gab sich ein betont nationales Profil, indem sie der Wiedervereinigung den Vorrang vor der Westintegration zuerkannte. Erst im Jahre 1960 stellte sich die SPD auf den Boden der Westverträge, die 1955 den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO ermöglicht hatten. Die Sozialdemokraten mussten diesen Schritt tun, wenn sie Regierungs­ver­ant­wortung in der Bundesrepublik übernehmen wollten. Nur auf dem Boden der Westverträge konnten sie 1966 als Juniorpartner in eine Regierung der Großen Koalition eintreten und drei Jahre später unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) jene „neue Ostpolitik“ beginnen, die es der Bundesrepublik erlaubte, einen eigenen Beitrag zur Entspannung zwischen West und Ost zu leisten, das Verhältnis zu Polen durch eine (wenn auch de jure nicht vorbehaltlose) Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze auf eine neue Grundlage zu stellen und ein vertraglich geregeltes Verhältnis zur DDR einzugehen. Auch das 1971 abgeschlossene Vier-Mächte-Abkommen über Berlin, das tatsächlich nur West-Berlin und sein Verhältnis zur Bundesrepublik betraf, wäre ohne die feste Westintegration des größeren der beiden deutschen Staaten unmöglich gewesen.

Die Ostverträge (1970–1973) der sozialliberalen Regierung Brandt-Scheel waren vor allem eines: eine Antwort auf die Verfestigung der deutschen Teilung durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961. Nachdem die Wiedervereinigung in immer weitere Ferne gerückt war, musste es der Bundesrepublik darauf ankommen, die Folgen der Teilung erträglicher zu gestalten und dadurch den Zusammenhalt der Nation zu sichern. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit blieb ein offizielles Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland. Aber die Erwartung, dass es jemals wieder einen deutschen Nationalstaat geben würde, ging nach Abschluss der Ost­ver­träge kontinuierlich zurück – bei den jüngeren Westdeutschen sehr viel stärker als bei den älteren.

In den achtziger Jahren aber geriet die Nachkriegsordnung allmählich ins Wanken. Die Krise des Ostblocks begann 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerk­schaft „Solidarnosc“ in Polen, gefolgt von der Verhängung des Kriegsrechts Ende 1981. Dreieinhalb Jahre später, im März 1985, kam in der Sowjetunion Michail Gorbatschow an die Macht. Der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sprach im Januar 1987 die geradezu revolutionäre Erkenntnis aus: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.“ Diese Botschaft beflügelte die Bürgerrechtler in Polen und Ungarn, in der Tschechoslowakei und in der DDR. Im Herbst 1989 wurde der Druck der Proteste im ostdeutschen Staat so stark, dass das kommunistische Regime allenfalls noch durch eine militärische Intervention der Sowjetunion zu retten gewesen wäre. Dazu aber war Gorbatschow nicht bereit. Die Folge war die Kapitulation der Ost-Berliner Parteiführung vor der friedlichen Revolution in der DDR: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer – ein Symbol der Unfreiheit, wie es 1789, zwei Jahrhunderte zuvor, die Pariser Bastille gewesen war.