Eine Brille für alle
Martin Aufmuth unterstützt in Lateinamerika Menschen mit günstigen Sehhilfen – und hilft ihnen damit auch zu besserer Bildung und besseren Jobs.
Am Amazonas westlich von Manaus liegen die Dörfer an dem mächtigen Strom weit auseinander. Hier mangelt es an vielem, auch an Augenärzten oder -ärztinnen – und an Brillen. Martin Aufmuth ist hier mit seinem Team in kleinen Booten voller augenoptischer Geräte und Brillenteilen unterwegs. Neben vielen anderen Menschen trifft er in einem der Dörfer Thalia. Ihre Sehschwäche misst er mit minus sieben Dioptrien, eine Brille hat sie jedoch nicht. „Ich versuche, in der Schule vorne zu sitzen und wenn die Schrift zu klein ist, bitte ich die Lehrerin größer zu schreiben oder ich gehe mit dem Heft nach vorne und schreibe dort von der Tafel ab“, erzählt das Mädchen in einem Video Aufmuths. Da trägt sie bereits ihre erste Brille und sieht zum ersten Mal in ihrem Leben scharf. Nur wenig länger als 20 Minuten braucht Aufmuth, um das Brillengestell zurechtzubiegen und Gläser in der richtigen Stärke einzuklicken. Und für Thalia öffnet sich eine neue Welt.
„Es ist die schnellste Brille der Welt“, sagt der 47-Jährige Aufmuth. Erfunden hat er sie selbst vor gut einem Jahrzehnt, als er noch Physik- und Mathematiklehrer war und in einem Ein-Euro-Laden billige Sehhilfen entdeckte. „In Afrika etwa gibt es Brillen beim Optiker oft erst für umgerechnet 50 Dollar und ich habe mich gefragt, warum gibt es eine so günstige Brille im reichen Deutschland, aber nicht dort“, erinnert er sich. Der Gedanke der Ein-Dollar-Brille war geboren.
Es folgten Experimente im heimischen Keller, Versuche mit Federstahldraht und der Prototyp einer mechanischen Biegemaschine für das Gestell. Aus China wurden Plastikgläser von minus zehn bis plus acht Dioptrien Stärke für 25 Cent das Stück organisiert. 2012 gründete Aufmuth dann als Ein-Mann-Unternehmen seinen Verein EinDollarBrille. Heute ist er in Brasilien, Bolivien und Peru sowie Kolumbien und sechs weiteren Ländern Afrikas und Asiens und mit insgesamt 280 lokalen Beschäftigten aktiv. Dazu kommen etwa 300 ehrenamtliche Helfer und Mitarbeiter in Deutschland.
Weltweit fehlen Brillen und augenoptisches Personal
„Es gibt weltweit eine enorme Unterversorgung an augenoptischem Personal“, erklärt der Deutsche sein Engagement. „Wer auf dem Land wohnt, kann es sich oft nicht einmal leisten, zur Augenuntersuchung in eine Stadt zu fahren“, sagt Aufmuth. Deshalb kommt seine Brille mittels mobiler Teams zum Menschen. „Ich wollte etwas, das mit einfachen Mitteln einen großen Unterschied ausmacht“, erklärt er seine Philosophie. Eine Schülerin wie Thalia kann nun entziffern, was an der Tafel steht und davon träumen, Ärztin zu werden.
Fast eine Milliarde Menschen weltweit leidet ohne Zugang zu Augenarzt oder Optikerin unter behebbarer Fehlsichtigkeit, hat eine Studie der Vereinten Nationen 2019 ergeben. Betroffene finden oft keinen Job. Die finanziellen Folgeschäden werden auf rund 270 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt.
In den jeweiligen Ländern werden seine Brillen für zwei bis drei lokale Tageslöhne verkauft, auch, um den bei EinDollarBrille angestellten lokalen Helfern ein Auskommen zu ermöglichen. „Für örtliche Verhältnisse zahlen wir gute Löhne“, betont Aufmuth. Sein Personal wird augenoptisch geschult, um Sehtests machen zu können. Am Zielort der mobilen Brillenteams warten dann manchmal bis zu tausend Menschen, um endlich scharf sehen zu können, sagt er. „Über 400 000 Brillen haben wir bislang ausgegeben“, bilanziert Aufmuth die vergangenen zehn Jahre seines Wirkens.
Bis 2019 ging es mit der Aktion stetig aufwärts. Dann kam die Pandemie. Corona-Lockdowns in Lateinamerika waren teils deutlich strikter als in Deutschland. Dennoch blickt Aufmuth optimistisch nach vorn. Dauerhafte, nicht nur sporadische Versorgung sei das Ziel seines Vereins in jedem Land. „Die Leute sollen wissen, dass wir in einem halben Jahr wieder bei ihnen sind.“