„Eine kriminelle Pandemie“
Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock über kriminelle Bedrohungen und wirkungsvolle Reaktionen während der Corona-Pandemie.
Interpol ist die größte internationale Polizeiorganisation der Welt. Wie sie in der Corona-Pandemie von Kriminellen herausgefordert wird, erklärt Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock im Interview.
Herr Stock, wie nutzen Kriminelle die Corona-Pandemie?
Die Corona-Pandemie hat Kriminellen noch nie dagewesene Möglichkeiten eröffnet, die sie ohne zu zögern nutzen. Wir haben erlebt, wie sich weltweit eine zeitgleiche, kriminelle Pandemie ausbreitet. Es hat einen deutlichen Anstieg bei Cyber-Bedrohungen, etwa mit Schad- und Erpressungssoftware, gegeben, ebenso beim Verkauf von gefälschten und nachgemachten Produkten wie persönlicher Schutzausrüstung und Medikamenten. Während weltweit Impfprogramme gestartet werden, sehen wir, wie kriminelle Organisationen gefälschte Impfstoffe herstellen und vertreiben. Interpol hat vor Kurzem dabei geholfen, ein solches Netzwerk zu zerschlagen. Uns erreichen zunehmend Berichte aus aller Welt zu Fälschungen bei Impfstoff-Zertifikaten und negativen Testergebnissen; das gilt für die physische Welt wie für Anzeigen im Darknet.
Wie bekämpft Interpol Kriminalität in der Pandemie?
Wir unterstützen die Strafverfolgungsbehörden in unseren 194 Mitgliedsländern auf vielfältige Weise bei der Bekämpfung von Verbrechen in Verbindung mit der Pandemie, ebenso bei Informationen zum Schutz der Öffentlichkeit. Dazu gehören Bedrohungseinschätzungen zu Verbrechen im Zusammenhang mit COVID-19, einschließlich Finanzbetrug, Terrorismus, Menschenhandel und Schleusung von Migranten sowie Warnungen vor neuen Vorgehensweisen, etwa von Drogendealern, die während Lockdowns Lebensmittel-Lieferdienste zum Transport ihrer Ware nutzen. Wir haben auch internationale Richtlinien erstellt, um die Sicherheit und Effektivität der Strafverfolgung, aber auch die Unterstützung von medizinischen Einsatzkräften während der Pandemie zu erhöhen. Warnungen unserer Abteilung für Cyberkriminalität ermöglichten es mehreren Mitgliedsländern, Cyberangriffe auf Einrichtungen des Gesundheitswesens oder der medizinischen Industrie erfolgreich zu erkennen und zu verhindern.
Die 1923 gegründete Interpol zählt zu den größten globalen Organisationen. Aktuell arbeiten Sie am Modernisierungsprojekt I-CORE (INTERPOL Capabilities for Operational Relevance). Was sind Ihre Ziele?
Interpol hat eine entscheidende Rolle in der polizeilichen Zusammenarbeit. I-CORE wird sicherstellen, dass wir auch künftig dem Bedarf unserer Mitgliedsländer gerecht werden. Das Programm konzentriert sich auf drei Hauptbereiche: Biometrie, um die sichere, genaue und automatisierte Identifizierung von Straftätern zu unterstützen; neue strukturierte Nachrichtenformate, um die Konsistenz der ausgetauschten Informationen und die Geschwindigkeit der Nachverfolgung zu verbessern; und drittens eine einheitliche Informationsarchitektur, damit Ermittler alle Interpol-Datenbanken auf einmal abfragen können, anstatt mehrere Suchvorgänge durchzuführen. Deutschland war das erste Land, das sich an der Finanzierung von I-CORE beteiligte: Die Bundesregierung steuert 5 Millionen Euro bei. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung und hoffen, dass andere Länder diesem Beispiel folgen.
Jürgen Stock, geboren 1959 in Wetzlar, arbeitete als Kriminalpolizist, Rechtsanwalt und Hochschul-Professor. 2004 wurde der Jurist Vizepräsident des Bundeskriminalamts BKA und seit 2014 ist er Generalsekretär von Interpol.
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