Kein Pionierabzeichen
Angie Pohlers wurde im Jahr des Mauerfalls im Osten Deutschlands geboren. Wie hat sie das Zusammenwachsen von Ost und West erlebt?
Großmütter erzählen gern Geschichten von früher. Meine tut das auch. Eine Anekdote trug sich Mitte der 1990er-Jahre zu, vielleicht ging ich schon zur Schule. Sie sprach von der DDR, dem Land, in dem ich 1989 geboren wurde und nur wenige Monate lebte. Drumherum, erklärte sie mir, gab es eine Mauer, man konnte nicht heraus. Ich war verblüfft. „Wie Pferde auf einer Koppel!“ Auch später fiel es mir schwer zu begreifen, wie das Leben meiner Familie aussah, bevor ich da war. Bevor der Eiserne Vorhang fiel.
Die DDR war weit weg – und doch gegenwärtig
Die DDR war für mich immer eine merkwürdige, absurde Welt, die weit weg zu sein schien. Dabei ist sie noch sichtbar. Ganz direkt, als kleine Impfnarbe auf meinem Arm. Wer so alt ist wie ich und eine hat, kommt wahrscheinlich aus dem Osten. Und die DDR spiegelt sich auch in meinem Vornamen. Angie steht als Name ja genauso wie Cindy, Nancy, Jessica, Ronny und Mike für die Sehnsucht unserer Eltern nach Nike-Turnschuhen und MTV-Stars. Es sind Namen, über die man sich heute gern lustig macht, dabei sind sie Ausdruck eines Traums. Der irgendwann wahr wurde: Wende, Freiheit, Pauschalreisen. Manchmal war es auch ein Alptraum: Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, zerrissene Biografien. Und die Kinder mittendrin.
Der Osten wurde kein zweiter Westen
Wir Ost-Nachgeborenen haben etliche Geschichten aus der Zeit vor 1989 gehört und erleben bis heute, wie sich Osten und Westen als Kultur- oder Wirtschaftsräume weiter unterscheiden – gerade, weil wir auch viele Freunde haben, deren Familien aus dem Westen kommen. Wir hatten Lehrer, die zum Stundenbeginn energisch „Sport frei“ riefen. Wir haben Großmütter, die SuperIllu lesen. Begriffe wie „Wessi“ und „Ossi“ wurden und werden in Familiengesprächen ganz selbstverständlich gebraucht.
In der Grundschule wurde Religionsunterricht angeboten – den hat bei uns im Nordosten bloß keiner belegt. 40 Jahre atheistischer Marxismus-Leninismus hinterließen eben ihre Spuren. Dafür gab es „Religionsersatzunterricht“, wir häkelten „Topflappen für Mutti“. Apropos Mutti: Meine ging natürlich arbeiten, und zwar nicht wenig. Als mir eine Freundin aus Mannheim im Westen Deutschlands erzählte, dass ihre Mutter jahrelang mit ihr und der Schwester zu Hause blieb, guckte ich etwas schief.
Die erste Generation ohne Mauer
So sehr mir die DDR in den Knochen steckt, so anders als meine Eltern und Großeltern bin ich aufgewachsen. Die Erste ohne Pionierabzeichen, die Erste mit Abitur und Studium. Die Erste ohne Russischkenntnisse, die Erste, die ein Schuljahr im Ausland verbrachte. Die Erste mit Freunden aus ganz Deutschland, Freunden in der Welt. Die erste richtige und gefühlte Europäerin.
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