„Die Geschichte ist nicht vergangen“
Seit fünf Jahren leistet das Projekt #StolenMemory Außergewöhnliches bei der Aufarbeitung von NS-Unrecht.
Ein Portemonnaie, ein Füller, ein Paar Ohrringe: Es sind Alltagsgegenstände, die den Besitzerinnen und Besitzern von den Nationalsozialisten entrissen wurden und die heute von den Arolsen Archives aufbewahrt werden – mit dem Ziel, möglichst alle der insgesamt rund 2.500 verbliebenen sogenannten Effekten einmal den Nachkommen der NS-Opfer übergeben zu können. Die Effekten gehörten NS-Verfolgten aus über 30 Ländern, überwiegend aus Polen, Deutschland und der damaligen Sowjetunion. Vor fünf Jahren haben die Arolsen Archives für die Rückgabe die Kampagne #StolenMemory gestartet, deren kreative, multimediale Erinnerungsarbeit erst kürzlich ausgezeichnet wurde. Die Französin Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, spricht im Interview über die internationale Wirkung der Kampagne und den sensiblen Umgang mit Fakten und Fiktion.
Frau Azoulay, warum war es Ihnen wichtig, vor fünf Jahren die Kampagne #StolenMemory zu starten?
2016 habe ich mein Amt als Direktorin der Arolsen Archives mit dem Auftrag angetreten, die Institution weiter zu öffnen. Die Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus standen zu wenig im Fokus unserer Arbeit. Als ich auf über 3.000 Umschläge mit persönlichen Gegenständen von NS-Opfern, die sogenannten Effekten, stieß, war mir klar: Die gehören hier nicht hin. Sie wurden nur noch aufbewahrt. Die Suche nach ihrer Herkunft war eingestellt worden, auch weil es mit den Jahren immer schwieriger erschien, Besitzer und Nachkommen zu identifizieren. Im Jahr 2016 hatten wir aber neue Möglichkeiten: Vielerorts wurden die Register der Standesämter und andere Quellen digitalisiert, Social-Media-Kanäle konnten für die Einbindung von Freiwilligen genutzt werden.
Wie hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Wir haben sehr schnell festgestellt: Die Suchergebnisse werden besser, sobald wir Freiwillige einbeziehen oder Journalisten auf Recherchemöglichkeiten aufmerksam machen. Schon 2016 hat die Arbeit niederländischer Journalisten dazu geführt, dass zahlreiche Effekten an Angehörige übergeben wurden. Der Ausgangspunkt sind unsere Recherchen in den Arolsen Archives, aber wenn Stationen der NS-Verfolgung und Ortsnamen ermittelt sind, erhalten wir oft wertvolle Unterstützung durch die Medien und das Engagement von Freiwilligen. Sie helfen uns zum Beispiel bei Fragen nach der korrekten Schreibweise von Namen, auch kommt es zu sehr wirkungsvollen Aufrufen in den sozialen Medien, die dazu führen, dass sich Leute bei uns melden.
Wie international ist #StolenMemory?
Sehr international. Freiwillige aus vielen Ländern, etwa aus Polen, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, ja sogar aus Neuseeland unterstützen uns mit hilfreichen Tipps oder aufwändigen Suchen vor Ort. In Italien und Polen haben wir mit Ausstellungen für #StolenMemory geworben. Eine Wanderausstellung zu Suchen und Rückgaben in einem Überseecontainer soll nach der erfolgreichen Premiere in deutschen Kleinstädten auch in Polen und möglichst auch in Frankreich gezeigt werden.
Was erleben Sie bei Rückgaben von Effekten an Familienangehörige?
Das ist sehr emotional, sehr berührend. Vor Kurzem zum Beispiel, bereits in der Corona-Pandemie, haben wir dem Franzosen Michel Loncar die Armbanduhr und den Füller seines Vaters übersandt. Er hat sich bedankt, aber auch geschrieben, dass er Zeit brauchen wird, bevor er das Paket öffnet. Ein anderes Beispiel ist die Geschichte der Spanierin Braulia Cánovas Mulero, die sich als Zwanzigjährige dem französischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten anschloss. Sie überlebte mehrere Konzentrationslager, aber bei ihrer Verhaftung waren ihr eine Armbanduhr und ein Ring abgenommen worden. Beides konnten wir ihren Kindern und Enkeln Ende 2018 übergeben; nicht weniger als zehn Familienangehörige reisten dafür aus Frankreich und Spanien nach Bad Arolsen. Es war sehr bewegend, wie sie ihre Mutter und Großmutter als wahre Europäerin beschrieben, die sich ihr Leben lang für Aussöhnung einsetzte. Wir haben in den vergangenen Jahren über 500 Effekten zurückgeben können, aber neben den bloßen Zahlen geht es uns darum deutlich zu machen: Die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen ist in Deutschland nicht abgeschlossen. Wir bleiben dran und wollen dazu beitragen, Lücken in den verschiedenen Familiengeschichten zu schließen. Oft führt erst die Rückgabe von Effekten dazu, dass in den Familien wieder über die leidvollen Erfahrungen der Angehörigen in der NS-Zeit gesprochen wird.
2021 ist #StolenMemory für den renommierten Grimme Online Award nominiert, und erst im Mai hat die Kampagne den Grand Prix des Art Directors Club Deutschland gewonnen, eine der höchsten Auszeichnungen der Kreativbranche. Was bedeutet Ihnen das?
Die Auszeichnungen bedeuten mir viel, denn sie zeigen, dass unsere Arbeit wahrgenommen wird und dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wissen Sie, Erinnerungsarbeit ist oft in Gefahr, zu steif zu geraten. Besonders in Deutschland gibt es im Umgang mit der NS-Geschichte Ängste: Arbeiten wir auch wirklich präzise genug? Machen wir Fehler? Verharmlosen bestimmte Darstellungsformen vielleicht? Das erschwert niederschwellige Zugänge.
Der Art Directors Club lobt die gründliche Recherche, aber auch den sorgsamen Einsatz fiktionaler Elemente für die #StolenMemory-Website und die Videos zu den ehemaligen KZ-Häftlingen Helena, István und Johannes.
Bei aller Korrektheit im Umgang mit Fakten wollen wir auch Geschichten erzählen. Im Fall des ehemaligen Polizisten Johannes haben wir zum Beispiel stundenlang diskutiert. Wir wissen aus unseren Unterlagen, dass er getanzt hat, es gibt Hinweise, dass er offenbar ein Frauenschwarm war – und so erzählen wir das dann auch in seinem Video. Es gibt da keinen Heiligen Gral; Erinnerungsarbeit wandelt sich. Aber wir müssen empathisch sein, emotional erzählen und deutlich machen: Die Geschichte ist nicht vergangen; sie kann uns immer noch berühren.