„Deutschland hat uns sehr geholfen“
Memorial-Mitgründer Oleg Orlow kam durch einen Gefangenenaustausch nach Deutschland. Im Interview erzählt er, wie es ihm seitdem ergangen ist.

Herr Orlow, Sie kamen über einen Gefangenenaustausch am 1. August 2024 nach Deutschland. Wie kann man sich den Ablauf vorstellen?
Als ich zusammen mit anderen politischen Gefangenen in Moskau ins Flugzeug stieg, sagte man uns nicht, wohin wir fliegen werden. In diesem Moment waren wir noch nicht frei, wir wurden von Mitarbeitern der russischen Sonderdienste eskortiert. Aber im Flugzeug sahen wir auf einem Bildschirm, dass wir Richtung Türkei flogen. Wir landeten in Ankara. Dann kamen Leute auf uns zu, die sich als Angestellte der deutschen Botschaft vorstellten. Erst jetzt bestand kein Zweifel mehr, dass unsere Reise nach Deutschland führen würde. Ich hatte dabei zwiespältige Gefühle: Einerseits ist Deutschland ein wunderschönes Land, und die Welt nicht durch vergitterte Fenster zu sehen, ist ein großes Glück. Andererseits blieben andere politische Gefangene, unsere Freunde, in Haft zurück. Außerdem beschäftigte mich die Frage, ob ich jemals nach Hause zurückkehren könnte, ob ich Russland wiedersehen würde. All dies überschattete meine Freude über die Befreiung.
Nun sind Sie seit rund acht Monaten in Deutschland. Wie haben Sie sich eingelebt?
Die anderen Ausgetauschten, die in Deutschland blieben, und ich haben hier von staatlicher Seite große Hilfe erhalten. Ohne diese Unterstützung wäre es schwer gewesen. Außerdem gibt es in Deutschland eine große russischsprachige Gemeinde, deshalb habe ich viele Freunde hier. Auch meine Freunde von Memorial Deutschland haben mir sehr geholfen. Die deutsche Bürokratie, über die sich ja manche beschweren, zeigte sich bei mir und meiner Frau, die zu mir kommen durfte, von ihrer besten Seite. Wir erhielten schnell alle erforderlichen Dokumente, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Ich bekam auch ein Stipendium der vom Auswärtigen Amt ins Leben gerufenen Elisabeth-Selbert-Initiative, die Menschenrechtsaktivisten unterstützt. Nun habe ich begonnen, die deutsche Sprache zu lernen. Freunde aus internationalen NGOs wie der „Civic Solidarity Platform“ fanden eine Wohnung für uns in Berlin. Dank all dieser wertvollen Hilfe haben wir uns gut eingelebt und führen ein erfülltes Leben.
Die Arbeit der Menschenrechtsorganisation Memorial ist in Russland kaum noch möglich. Haben Sie von Deutschland aus weiterhin Kontakt?
Das Regime in Russland will Memorial und andere Zellen der Zivilgesellschaft zerstören. Aber es ist noch nicht gelungen. Sie sind unterdrückt, sie sind in einer schweren Lage, aber einige Strukturen von Memorial funktionieren weiterhin in Russland. Eher verdeckt und im Untergrund, aber die Arbeit geht weiter. Ich bin fast jeden Tag mit Freunden und Kollegen in Russland im Austausch. Moderne Kommunikationsmittel helfen, dass ich nicht vollständig von meiner Heimat und den Geschehnissen vor Ort getrennt bin.
Nach Ihrer Befreiung sind Sie bereits zweimal von Deutschland in die Ukraine gereist – mit einem russischen Pass ist das sehr ungewöhnlich. Was sind Ihre Eindrücke?
Für uns war es wichtig, mit Menschen vor Ort zu sprechen, mit Zeugen, die uns helfen würden, die Verbrechen der russischen Invasoren zu dokumentieren. Als Russe in die Ukraine zu reisen, ist moralisch schwierig. Denn obwohl ich ein Gegner des Regimes bin, habe ich einen Pass des Angreiferlandes. Ukrainer sehen einen mit erstaunten Augen an und fragen: „Wer bist du denn, warum bist du gekommen?“ Die Haltung uns gegenüber war unterschiedlich, es gab auch Misstrauen, was verständlich ist. Zuerst hatten wir die Befürchtung, dass die Opfer russischer Aggression überhaupt nicht mit uns sprechen würden. Aber die Menschen erzählten uns ihre unfassbaren Geschichten – von Folter und Mord. Fast alle Ukrainer sagten uns bemerkenswerterweise: „Wir werden Russland niemals vergeben, aber die Russen sind keine Feinde.“
Derzeit wird viel über einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine gesprochen, auch in Deutschland. Wie bewerten Sie das?
Es ist fraglich, ob ein Waffenstillstand, der von Putin und Trump verhandelt wird, zur Grundlage eines dauerhaften Friedens werden kann. Ich vermute, dass ein unterdrückter Hass jederzeit ausbrechen und sich sogar verstärken kann, wenn die Angreifer unbestraft bleiben sollten.
Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der neuen deutschen Bundesregierung?
Ich erhoffe mir vor allem, dass die russischen politischen Gefangenen nicht vergessen werden. Wenn ich mit offiziellen Stellen in Deutschland kommuniziere, spreche ich immer wieder das Thema eines möglichen künftigen Austausches an. Auch wenn Deutschland dabei vielleicht nicht die tragende Rolle spielen würde, so ist die deutsche Position doch äußerst wichtig. Außerdem halte ich es für notwendig, dass Deutschland weiterhin die Ukraine unterstützt – sowohl militärisch als auch durch den Sanktionsdruck auf Russland.
Zur Person: Oleg Orlow
Oleg Orlow wurde 1953 in Moskau geboren. Der Biologe und Menschenrechtsaktivist gründete die Menschenrechtsorganisation Memorial unter anderem mit dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow 1989 in der damaligen Sowjetunion. Im Oktober 2022 erhielt Memorial den Friedensnobelpreis. Orlow sprach sich gegen den Ukrainekrieg aus und wurde am 27. Februar 2024 wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ zu zweieinhalb Jahren Haft im Straflager verurteilt. Nach fünf Monaten Gefängnis wurde er am 1. August 2024 im Rahmen eines größeren Gefangenenaustauschs befreit. Orlow lebt seitdem in Deutschland.
Elisabeth-Selbert-Initiative
Die Elisabeth-Selbert-Initiative bietet gefährdeten Menschenrechtsaktivisten einen sicheren Ort, den sie für die persönliche Erholung, Bewältigung von Traumata und die berufliche Weiterbildung und Netzwerkarbeit nutzen können. Namenspatronin der Initiative ist die Politikerin und Juristin Dr. Elisabeth Selbert (1896 – 1986). Als eine der vier “Mütter des Grundgesetzes" hat sie sich insbesondere für die Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Grundgesetz eingesetzt.