„Rückkehr nach Europa“
Nach dem Mauerfall setzte Polen auf deutsche Hilfe. Heute erwarten die Menschen vor allem eines: mehr Respekt.
Włodzimierz Cieszkowski kann eigentlich keine gute Meinung von den Deutschen haben. Als die Wehrmacht 1939 Polen überfiel, schlug er sich über Rumänien und Italien nach Frankreich durch. Dort schloss er sich mit gerade einmal 16 Jahren den polnischen Divisionen an, die an der Westfront kämpften. Er erlebte, wie die Bomben des Feindes „riesige Krater rissen, bis Staub und Steine vom Himmel fielen wie Schnee“. 80 Jahre später verliert Cieszkowski dennoch kein schlechtes Wort über die Deutschen. Im Gegenteil. Er lobt die „kluge Politik von Angela Merkel“, die in so deutlichem Kontrast zu „diesem Brexit-Wahnsinn“ stehe. Man gehöre in Europa doch zusammen.
Über Berlin nach Brüssel und Europa
Der 96-Jährige spricht damit aus, was nach der friedlichen Revolution von 1989 in Polen über alle weltanschaulichen Gräben hinweg Konsens war. Die „Rückkehr nach Europa“ und in die westliche Staatengemeinschaft, der man sich historisch und kulturell zugehörig fühlte, war nach vier Jahrzehnten Sowjetherrschaft das oberste Ziel aller Politik in Warschau. Der Weg nach Brüssel aber sollte über Berlin führen. Die mächtigen, nach dem Mauerfall wiedervereinigten Deutschen sollten helfen, auch die europäische Einheit zu vollenden. Mindestens dies, das schwang dabei mit, waren sie den Polen doch wohl schuldig. Und es funktionierte. 1999 trat Polen der Nato bei, 2004 der EU.
Der Handel bricht Rekorde
Die Aussöhnung im Herzen Europas bekam auf diese Weise allerdings auch etwas Instrumentelles. Das zeigt die Gegenwart des Jahres 2019 deutlich. Am besten läuft es zwischen den Nachbarn dort, wo Nutzen und Profit regieren: Der Handel bricht einen Rekord nach dem anderen. Deutschland ist für Polen weltweit der wichtigste Markt. Umgekehrt dürfte Polen bald zum sechststärksten Wirtschaftspartner der Bundesrepublik aufsteigen. Das Nachbarland habe „eine enorme Bedeutung für uns“, erklärte Wirtschaftsminister Peter Altmaier erst kürzlich in Warschau, wo er eine gemeinsame Offensive in den Bereichen Industrie 4.0, künstliche Intelligenz und Elektromobilität auf den Weg brachte.
Das klingt nach Zukunft. Doch die Vergangenheit bleibt allgegenwärtig. Das ist in diesem multiplen Gedenkjahr 2019 in Polen besonders stark zu spüren. Die Erinnerungen an den deutschen Überfall vor acht und den Mauerfall vor drei Jahrzehnten, an den Nato-Beitritt vor 20 und die EU-Osterweiterung vor 15 Jahren überlappen einander. Und immer wieder schwingt dabei im Unterton derselbe Vorwurf mit: Es gebe in Deutschland, aber auch in vielen anderen Staaten des Westens, einen eklatanten Mangel an Respekt für die historischen Leistungen der Polen und für die Menschen im Osten Europas insgesamt.
Seit den Wahlen 2015, als die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die Regierung in Warschau erlangte, scheint die polnische Politik um dieses Thema zu kreisen wie um einen Gravitationskern. PiS-Chef Jarosław Kaczyński betont bei jeder passenden Gelegenheit, die östlichen EU-Mitglieder würden in Brüssel als „Europäer zweiter Klasse“ behandelt. Manches spricht dafür, dass Kaczyński das Argument nutzt, um von dem Rechtsstaatsstreit mit der EU-Kommission abzulenken, die der PiS-Regierung eine Aushöhlung der Gewaltenteilung vorwirft. Aber Kaczyński trifft bei seinen Landsleuten zweifellos einen Nerv. Die PiS gewann im Mai die Europawahl klar und liegt auch in den Umfragen vor der Sejm-Wahl am 13. Oktober weit vorn.
Der Zweite Weltkrieg ist nicht vergessen
Agnieszka Łada hat noch andere Zahlen parat, die vom polnischen Verlangen nach Anerkennung zeugen. Die Europa-Expertin des Warschauer Instituts für Öffentliche Angelegenheiten forscht seit Langem zu Stimmungen und Wahrnehmungen im Verhältnis der Nachbarn und legt alljährlich das Deutsch-Polnische Barometer vor. Die jüngste Erhebung zeigt, dass fast zwei von drei Bundesbürgern überzeugt sind, das Leid der Polen im Zweiten Weltkrieg werde ausreichend gewürdigt. In Polen aber ist es genau umgekehrt. Nicht einmal jeder Dritte sieht dort das historische Leid der eigenen Nation anerkannt.
Dieter Bingen, der langjährige Leiter des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, spricht von einem „hohen Maß an Gleichgültigkeit und Ignoranz unserem direkten Nachbarn gegenüber“. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass das Barometer in Polen stetig fällt, wenn es um die Beziehungen zu Deutschland geht. Im Jahr 2000 bewerteten noch 83 Prozent der Polen das Verhältnis zum Nachbarn im Westen als gut. Heute sind es 59 Prozent. Agnieszka Łada, der die Aussöhnung zwischen den Menschen spürbar am Herzen liegt, appelliert deshalb an beide Seiten, „aneinander interessiert zu bleiben“.
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