„Wir haben die Versöhnung vollzogen“
Wie steht es um die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Gedenkjahr 2019? Wir haben Rafał Dutkiewicz danach gefragt.
Der langjährige Breslauer Oberbürgermeister Rafał Dutkiewicz (60) beendet in diesen Tagen ein Jahr als Richard-von-Weizsäcker-Fellow der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin. Der ehemalige Solidarność-Aktivist spricht über den Stand der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Gedenkjahr 2019, die Lage der EU und den wachsenden Nationalismus in Europa.
Sie waren 16 Jahre lang, von 2002 bis 2018, Oberbürgermeister von Breslau – oder sollte man auch im Deutschen lieber Wrocław sagen?
Wenn ich Deutsch spreche, sage ich Breslau, im Polnischen Wrocław. Das hat seinen Grund in der Geschichte. Es ist die einzige Großstadt der Welt, in der die Bevölkerung einmal innerhalb kürzester Zeit zu 100 Prozent ausgetauscht wurde. Die Deutschen wurden bei Kriegsende 1945 vertrieben, und stattdessen kamen Polen, die teilweise ebenfalls Vertriebene waren, aus dem Osten. Wie man mit dieser extremen Geschichte umgeht, das zeigt sich auch in der Sprache. All jene, die den Bruch hervorheben wollen, sagen: Es gab vor dem Krieg eine deutsche Stadt Breslau, und seit dem Krieg gibt es eine polnische Stadt Wrocław. Ich möchte aber gern die Kontinuität betonen, die es trotz allem gibt, weil wir polnischen Breslauer die Geschichte der Stadt als Ganzes angenommen haben. Deswegen haben beide Namen ihre Berechtigung, auch heute noch oder sogar mehr denn je. Schließlich haben wir die Versöhnung inzwischen vollzogen.
2019 haben sich Deutsche und Polen gemeinsam an den Überfall der Wehrmacht 1939 und den Weltkriegsbeginn erinnert. Am Volkstrauertag haben Sie im Bundestag eine vielbeachtete Rede gehalten. Wie fällt Ihre Bilanz des Gedenkjahres aus?
Es war ein wichtiges Jahr. Denn wenn ich sage, dass die Versöhnung vollzogen ist, dann heißt das nicht, dass sie selbstverständlich oder unumkehrbar ist. Die letzten Jahre, seit dem Regierungsantritt der nationalkonservativen PiS in Warschau 2015, waren ja für die deutsch-polnischen Beziehungen nicht die beste Zeit. Es braucht dringend Menschen, die auch weiterhin für die Aussöhnung eintreten. Damit meine ich zum Beispiel Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der am 1. September in Wieluń, wo 1939 der Krieg begann, eine herausragende Rede gehalten hat. Und auch der Besuch von Außenminister Heiko Maas am 1. August in Warschau war ein wichtiges Zeichen, am 75. Jahrestag des Aufstandes in der Stadt, die von den Deutschen später dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Die PiS-Regierung fordert von Deutschland Kriegsreparationen. Zu Recht?
Ja und nein. Einerseits stimmt es: Polen hat keine Reparationen bekommen, und das war eine historische Ungerechtigkeit. Andererseits leben wir heute in einem geeinten Europa. Deutschland hat uns auf dem Weg in die EU enorm unterstützt. Deswegen ist das 21. Jahrhundert nicht mehr die Zeit, Reparationen zu fordern. Damit stärkt man nur Rechtsextremisten und Nationalisten, auf beiden Seiten. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mich über eine symbolische finanzielle Geste von deutscher Seite freuen, eine Studienstiftung oder Ähnliches.
Viel ist im vergangenen Jahr auch über ein Polendenkmal in Berlin gesprochen worden. Was halten Sie von der Idee?
Polendenkmal ist ein seltsamer Name. Es geht ja um ein Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung in Polen. Eine wunderbare Geste wäre es aber in jedem Fall. Ich bin auch eher für ein Mahnmal als für ein Museum. Ein Denkmal hätte eine klare Aussage: Es gab diese polnischen Opfer, denk mal darüber nach.
Die Briten haben die EU verlassen, und in Zeiten der Corona-Epidemie kann man den Eindruck gewinnen, dass sich die Nationen wieder auf sich selbst zurückziehen. Wie steht es um die EU, in der Deutsche und Polen zueinandergefunden haben?
Die EU ist das schönste Projekt, das es auf dem Kontinent je gab. Wir haben tausend Probleme, aber die EU ist großartig. Nehmen wir noch einmal das Beispiel meiner Stadt. Kürzlich wurde eine Studie zur wirtschaftlichen Entwicklung in europäischen Großstädten zwischen 2008 und 2018 veröffentlicht. Breslau landete hinter Dublin und Prag auf Platz drei. Was für eine Nachricht! Das wäre ohne die Mitgliedschaft Polens in der EU niemals möglich gewesen. Und dabei geht es nicht nur um Geld, sondern vor allem auch um Standards: Arbeitsbedingungen, Umweltschutz, Korruptionsbekämpfung und vieles mehr.
Haben Sie keine Angst, dass wachsender Rechtspopulismus und Neonationalismus das Einigungsprojekt gefährden?
Lassen Sie es mich so sagen: Jeder Mensch, der arbeitet, schwitzt. Der Schweiß muss abgewaschen werden, sonst beginnt der Mensch zu stinken. Ich glaube, der Nationalismus ist der nicht abgewaschene Schweiß, den Gesellschaften absondern. Anders gesagt: Nationalismus stinkt. Deswegen sollte Europa eine Dusche nehmen (lacht). Im Ernst: Wir müssen die EU auf eine neue Grundlage stellen und dabei vor allem die lokalen, regionalen Bedürfnisse mit dem universalen, supranationalen Anspruch versöhnen. Denn Menschen sind soziale Wesen und brauchen eine breite Gemeinschaft. Das war lange die Nation, aber im 21. Jahrhundert erreichen wir eine neue Etappe der Zivilisation, in der sich supranationale Gemeinschaften herausbilden, und die EU geht dabei voran. In diesem Sinn glaube ich, dass Rechtspopulismus und Nationalismus so etwas wie agonale Schmerzen sind, Todeskrämpfe, die das ultimative Ende des nationalen Zeitalters kennzeichnen, das im 19. Jahrhundert begann. Das tut weh. Aber die nationalistische Welle wird vorübergehen.
Das Verhältnis zwischen Brüssel und Warschau ist seit einiger Zeit angespannt. Die EU-Kommission hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet. Wie können beide Seiten wieder zusammenfinden?
In Deutschland hat man seit Langem begriffen, dass eine funktionierende Demokratie auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit beruht. Es gibt da eine unauflösliche Verbindung. Die PiS-Regierung in Warschau versucht genau diese Verbindung aufzubrechen. Freie Wahlen – ja, aber unabhängige Gerichte – nein. Heute haben wir in Polen keine unabhängige Justiz mehr, und das ist wirklich schrecklich. Genauso schlimm ist die antieuropäische Dynamik, die damit einhergeht. Es ist nicht so, dass die PiS einen Polexit anstrebt, einen Austritt aus der EU nach britischem Vorbild. Aber die abfällige Art, wie führende PiS-Politiker über das geeinte Europa sprechen, setzt in der Gesellschaft etwas in Gang, und das ist auf Dauer gefährlich.