Neue Ära der Transformation
Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine stellen die Energiewende vor Herausforderungen. Doch die Krise kann zur Chance werden.
Bis 2045 will Deutschland klimaneutral sein, fünf Jahre früher als die Europäische Union. Für dieses ambitionierte Ziel muss die Energieversorgung grundlegend umgebaut werden, denn dabei entstehen die meisten Treibhausgasemissionen. Auf allen Ebenen muss in relativ kurzer Zeit sehr viel passieren: Fossile Brennstoffe wie Kohle, Erdöl und Erdgas, die derzeit noch dominieren, müssen durch erneuerbare Energien ersetzt werden, Autos mit Verbrennungsmotoren durch Elektrofahrzeuge, Heizkessel und Gasthermen durch Wärmepumpen und andere nachhaltige Heizsysteme. Und auch bei der Energieeffizienz, also dem sparsamen Umgang mit Strom und Wärme, ist noch einiges zu tun.
Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben das Projekt Energiewende vor besonders große Herausforderungen gestellt. „Sie dominierten das Energiejahr 2022“, fasst eine aktuelle Analyse des Thinktanks Agora Energiewende zusammen. Versorgungssicherheit war das Gebot der Stunde. Stillgelegte Kohlekraftwerke gingen wieder ans Netz, um einen möglichen Mangel an Gas auszugleichen. Viele Industriebetriebe nutzten verstärkt Erdöl, um das teure Erdgas zu ersetzen. Dadurch konnte Deutschland die Energiekrise gut meistern. Doch gleichzeitig entstanden zusätzliche Klimagase, weil Kohle und Öl mehr Emissionen verursachen als Gas.
Verbrauch auf dem niedrigsten Stand seit 1990
Die Bilanz ist deshalb gemischt. Auf der positiven Seite: Haushalte und Industrie sparten kräftig Energie ein. Der Gesamtverbrauch ging um rund fünf Prozent zurück und sank damit auf den tiefsten Stand im wiedervereinigten Deutschland. Auch beim Gasverbrauch gab es laut Bundesnetzagentur ein deutliches Minus von 14 Prozent. Doch die Rückkehr von Kohle und Erdöl macht die deutschen Klimaziele noch ambitionierter. Fünf Millionen Tonnen CO2 wurden 2022 mehr emittiert als eigentlich geplant. Das Minderungsziel von 40 Prozent gegenüber 1990 wird damit knapp verfehlt. Bis 2030 sind 65 Prozent angepeilt.
Bei den erneuerbaren Energien gab es 2022 einen Rekord. Mit gut 48 Prozent deckten sie schon fast die Hälfte des deutschen Stromverbrauchs. Hauptgrund für den Höchstwert war allerdings eine besonders günstige Witterung: Es gab sehr viel Wind und mehr Sonnenstunden als je zuvor. „Wir müssen das Ausbautempo der Erneuerbaren massiv erhöhen“, sagt deshalb die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Dabei kann die aktuelle Energiekrise infolge des Kriegs in der Ukraine sogar zu „einem echten Energiewende-Booster“ führen, ist Kemfert überzeugt. Denn Ökoenergien bauen nicht nur die Abhängigkeit von fossilen Energielieferungen ab und helfen Treibhausgase einzusparen – sie wirken auch preisdämpfend. Ohne sie wären die Strompreise 2022 noch höher gewesen.
Zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie
Damit die Energiewende schneller vorankommt, hat die Bundesregierung 2022 neue gesetzliche Regelungen beschlossen. Wichtigste Weichenstellung ist, dass die Nutzung der Erneuerbaren künftig „im überragenden öffentlichen Interesse liegt und der öffentlichen Sicherheit dient“. Damit ist bei Planung und Genehmigung von Projekten der Weg frei für ein beschleunigtes Verfahren, wie es beim Straßenbau oder beim Kohletagebau längst der Fall ist. Außerdem müssen künftig im Schnitt zwei Prozent der Landesfläche für Windenergieprojekte ausgewiesen werden.
Die Ausbauziele für Wind und Sonne wurden zugleich kräftig angehoben. Bis 2030 soll der Strom in Deutschland mindestens zu 80 Prozent erneuerbar sein. Zuvor lag die Zielmarke bei 65 Prozent. Diese Zielerhöhung ist besonders ambitioniert. Denn der Stromverbrauch wird voraussichtlich um ein Drittel steigen, wenn – wie geplant – bis zum Ende des Jahrzehnts mindestens 15 Millionen E-Autos auf den Straßen unterwegs sind und sechs Millionen Wärmepumpen eingebaut werden.
Kohleausstieg wird vorgezogen
Auch beim Kohleausstieg soll es schneller gehen. Im rheinischen Kohlerevier wird er nach einer Vereinbarung mit dem Energieunternehmen RWE auf 2030 vorgezogen und geschieht damit acht Jahre früher als bislang geplant. Der Ausstieg aus der Atomenergie wurde hingegen auf das Frühjahr 2023 verschoben, um die Stromversorgung zu sichern. Eigentlich sollten bereits 2022 die letzten Kraftwerke heruntergefahren werden.
Die derzeitige Energiekrise kann für die Energiewende deshalb zur Chance werden. Dafür gibt es bereits Anzeichen. So boomt derzeit die Nachfrage nach Solaranlagen, E-Autos und Wärmepumpen. Sowohl bei Unternehmen als auch in der Bevölkerung ist das Interesse an Energiewende-Technologien stark gestiegen. Auch die Anzahl der Jobs im Bereich der Erneuerbaren, die vor 15 Jahren stark einbrach, hat sich wieder erholt und liegt nun bei rund 350.000. Agora Energiewende zieht deshalb ein positives Fazit: „Das Jahr 2022 hat eine neue Ära für die Transformation zur Klimaneutralität eingeläutet.“