Entwicklungsschub durch Pandemie
Corona hat jungen Unternehmen einiges abverlangt. Gründerinnen und Gründer aus Europa berichten, wie sie darauf reagiert haben.
Wonder: Interaktiver Austausch
Die Hochzeit soll für viele Paare eine unvergessliche Feier werden. Viele wünschen sich professionelle Hochzeitsfotografen. Aber wo findet man die? Um die Suche zu vereinfachen, wollte Stephane Roux die Online-Vermittlung Marrily aufbauen. Das war im Januar 2020. Dann kam Corona. „Auf einen Schlag war der Markt tot“, erinnert sich Roux. Marrily ist inzwischen offline. Stattdessen hat Stephane Roux zusammen mit Leonard Witteler und Pascal Steck die Videokonferenzsoftware Wonder ins Leben gerufen – eigentlich ein altes Coding-Projekt aus Leonard Wittelers Studienzeiten.
Bei Wonder sehen alle Konferenzteilnehmer eine zweidimensionale Karte, auf der sie sich mit ihrem Profil frei bewegen. Personen, die sich zeitgleich auf der Karte befinden, können einander ansprechen oder anschreiben oder sich zu Gruppen hinzugesellen – ähnlich wie bei einer realen Veranstaltung. „Die Kommunikation über Wonder ist interaktiver als bei einer klassischen Videokonferenz, in der einer spricht und alle anderen zuhören“, erklärt Roux, der an renommierten Hochschulen in London und Oxford Politik- und Wirtschaftswissenschaften studiert hat.
Im Februar 2021 zählte das Berliner Startup laut eigenen Angaben weltweit bereits 700.000 Besucher. „Wir sind praktisch von Nutzern überrannt worden“, resümiert Roux. Darunter sind auch Unternehmen wie Johnson & Johnson, Deloitte oder Siemens. Noch ist die Software kostenlos. Doch Wonder muss Geld verdienen, daher soll es ab Mitte 2021 erste Bezahlmodelle geben.
Das Unternehmen will wachsen: Derzeit sind sie 30 Mitarbeiter bei Wonder, künftig sollen es bis zu 60 sein. Im Jahr 2020 sammelten die Gründer knapp elf Millionen Euro bei Investoren ein – eine hohe Summe für ein gerade ein Jahr altes Unternehmen. Offen bleibt, ob die Nachfrage nach Videokonferenz-Lösungen auch über die Pandemie hinaus anhält und wie etablierte Anbieter wie Google Meet, Microsoft Teams oder Zoom ihre Software weiterentwickeln werden.
Inveox: Zweites Standbein in der Pandemie
Weniger Handarbeit, weniger Fehler: Das Start-up-Unternehmen Inveox digitalisiert und automatisiert den Eingang von Krebsgewebeproben. Normalerweise werden die Behälter mit den entnommenen Geweben in den Praxen von Hand beschriftet, zur weiteren Untersuchung an Labore verschickt und dort erneut händisch umgepackt. Ein fehleranfälliges System. „Proben werden beispielsweise verwechselt oder gehen verloren“, erklärt Dominik Sievert, der das Startup 2017 gemeinsam mit seiner Frau Maria gründete und inzwischen sogar ein Tochterunternehmen in Polen aufgebaut hat.
Das System von Inveox besteht aus einem intelligenten Probenbehälter, einer Online-Plattform zur Datenübertragung zwischen behandelndem Arzt und Labor und einem Automaten für den Probeneingang. Diese Produkte vertreibt das Startup an private Labore, Unikliniken, Krankenhäuser und Arztpraxen. Doch für die digitalen Helfer fehlten plötzlich die analogen Vorführmöglichkeiten: „Seit Corona sind die meisten Labore für Externe nicht mehr zugänglich“, sagt Sievert.
Ein Jahr nach Beginn der Pandemie verkauft Inveox daher als zweites Standbein medizinische Verbrauchsgüter wie Masken und Corona-PCR-, Schnell- und Selbsttests. Zu den Kunden gehören Kliniken, Labore, medizinische Versorgungszentren sowie Pflegeeinrichtungen in Europa und in den USA. Entsprechende Lieferkontakte hatte das Unternehmen bereits vor der Pandemie aufgebaut und konnte schnell darauf zurückgreifen.
„Das Jahr 2020 war ein Auf und Ab“, sagt Gründer Sievert rückblickend. In Kurzarbeit schicken mussten sie die rund 120 Mitarbeitenden am Hauptstandort München und in Krakau aber nicht. Er sei zuversichtlich, dass Corona die Digitalisierung in der Medizintechnik beschleunige – und davon auch das Kerngeschäft von Inveox über die Pandemie hinaus profitiere. Unterstützung von der Europäischen Union gab es bereits. Im Rahmen des Programms Headstart wurde das Startup 2017 mit 50.000 Euro gefördert.
Fairphone: Aufmerksamkeit auf faire Rohstoffe
Das 2013 gegründete niederländische Unternehmen Fairphone will sich als umweltfreundliche und soziale Alternative zu Apple, Samsung und Co. positionieren. Das Versprechen: Ein Teil des verbauten Materials besteht aus recyceltem Plastik, die Lieferketten der einzelnen Smartphone-Komponenten werden vollständig nachverfolgt. Keine einfache Aufgabe. Denn in den Handys stecken etliche Rohstoffe wie Cobalt oder Zinn, die in verschiedenen Bergbauten geschürft werden. Immerhin rund 30 Prozent der Fokusmaterialien im Fairphone 3, wie etwa Gold, sind laut Wirkungsbericht 2019 fair beschafft worden. Künftig soll der Anteil auf 70 Prozent steigen.
Einzelne Module, wie etwa die Kamera oder der Akku, lassen sich separat herausnehmen, reparieren und ersetzen. Dadurch sollen die Smartphones deutlich länger nutzbar sein – auch nach Ablauf der Garantie. Etwa zwölf Prozent der Kunden greifen nach Unternehmensangaben derzeit auf diese Möglichkeit zurück.
Die meisten Handys verkauft Fairphone in Deutschland. Obwohl mit dem Lockdown im März 2020 viele Handygeschäfte schließen mussten, konnte Fairphone die Anzahl der europaweit verkauften Handys 2020 auf 95.000 mehr als verdoppeln, wie das Unternehmen mitteilt.
Noch etwas anderes könnte den Niederländern helfen: Jüngst wurde in Deutschland das Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht, ein europaweites Gesetz soll folgen – das könnte massive Konsequenzen für die IT-Branche haben und dem Geschäftsmodell von Fairphone besondere Aufmerksamkeit bescheren.