Brückenschlag nach Osten
Studieren an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) heißt auch: Grenzen überschreiten.
Wenn Pola Ostałowska studiert, überschreitet sie im wahrsten Sinne des Wortes Grenzen. Wenn sie zu ihren Vorlesungen geht, überquert sie häufig die Oder, die sich zwischen der deutschen Stadt Frankfurt (Oder) und dem polnischen Słubice hindurchschlängelt. Gefühlt sind beide Städte längst zusammengewachsen, sagt die 23-Jährige. „Mittlerweile spürt man nicht mehr, wenn man die Grenze überquert.“
Die Studentin der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) bewegt sich tagtäglich zwischen Deutschland und Polen. Sie wuchs in Polen auf, bis ihre Eltern mit ihr im Alter von 14 Jahren nach Magdeburg umzogen. Nun absolviert sie ein deutsch-polnisches Jurastudium an der Viadrina. Dabei studiert sie nicht nur an der Viadrina in Frankfurt (Oder), sondern auch am Collegium Polonicum in Słubice, das in Sichtweite der Studiengebäude auf deutscher Seite liegt.
Gemeinschaftsprojekt Collegium Polonicum
Die Viadrina betreibt das Collegium Polonicum gemeinsam mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. An der Einrichtung geht es in Forschung und Lehre neben Rechtsfragen beispielsweise auch um Transformationsprozesse in den mitteleuropäischen Gesellschaften und interkulturelle Kommunikationsprozesse in und zwischen West- und Mittelosteuropa. Auch wirtschaftliche, rechtliche, kulturelle und ökologische Aspekte der Entwicklung der Grenzregion zwischen Polen und Deutschland im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind Thema.
Die Beispiele stehen für den Brückenschlag zwischen Deutschland und Polen und weiteren osteuropäischen Ländern. Und dieser Brückenschlag war auch Teil der Gründungsidee der Viadrina, die aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative hervorgegangen ist.
Nach der Wiedervereinigung wuchs die Idee der „Oder-Universität“
Die Idee einer „Oder-Universität“ entstand in unterschiedlichen „Wende-Bewegungen“, wie dem Neuen Forum. Im Jahr 1990 reiste eine Gruppe von sechs Gründungbegeisterten zu einem Hochschulgründungsseminar und erstellte ein erstes Hochschulkonzept. Im Herbst 1990 kamen über 100 Bürgerinnen und Bürger zusammen und gründeten den Verein der Freunde und Förderer der Frankfurter Oder-Universität (Viadrina) e. V. Bereits 1991 startete dann das Hochschulleben an der deutsch-polnischen Grenze. „Bildungseinrichtungen in Grenzgebieten [sind] nicht mehr Bollwerke der eigenen gegenüber einer fremden Kultur, sondern haben eine Brückenfunktion, von deren Erfolg es im Wesentlichen abhängen wird, ob der europäische Integrationsprozess wirklich den Punkt der Unumkehrbarkeit erreichen wird“, erklärte der Gründungsrektor Knut Ipsen damals in einer Rede.
Das Europaprofil hat die Hochschule bis heute bewahrt. So bietet die Viadrina beispielweise mit dem Masterstudiengang „European Studies“ einen mehrsprachigen, interdisziplinären Studiengang an, der von allen drei Fakultäten getragen wird – der Kulturwissenschaftlichen, der Wirtschaftswissenschaftlichen und der Juristischen Fakultät. „Wir sind die einzige Hochschule, an der Juristen Europarecht als Pflichtklausur im Staatsexamen haben“, sagt Professorin Dagmara Jajeśniak-Quast, die Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien. Der Europa-Fokus zeigt sich zum Beispiel auch an der kürzlich gegründeten European New School of Digital Studies. Hier beschäftigen sich internationale Studierende und Forschende mit den politischen, juristischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung in Europa.
Angesichts der vielen Europa-Aktivitäten ist es kein Wunder, dass viele Absolventinnen und Absolventen später in EU-Institutionen arbeiten, wie Dagmara Jajeśniak-Quast berichtet. Sie betont aber zugleich: „Europa besteht natürlich nicht nur aus den Ländern der EU“. So kooperiert die Viadrina beispielsweise mit zahlreichen ukrainischen Forschungseinrichtungen. Ukrainerinnen und Ukrainer stellen zudem nach Polinnen und Polen die zweitgrößte Gruppe ausländischer Studierender an der Europa-Universität. Insgesamt kommen 30 Prozent der Studierenden aus dem Ausland. Und für Auslandssemester kooperiert die Viadrina mit 250 Partneruniversitäten.
Das internationale Flair ist es auch, was Pola Ostałowska an der Hochschule sehr schätzt. „Das macht Lust noch mehr Fremdsprachen zu lernen“, sagt sie. „Sprache ist der Schlüssel zu guter Kommunikation: Wenn man in der Muttersprache des anderen spricht, spricht man das Herz an – und nicht den Kopf.“
Auch Dagmara Jajeśniak-Quast ist gebürtige Polin, hat selbst an der Viadrina studiert und promoviert und ist später an die Europa-Universität zurückgekehrt. Das von ihr geleitete Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien setzt in der Forschung stark auf interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Wer sein Vorhaben im Graduiertenkolleg vorstellen will, muss immer einen interdisziplinären Zugang zum Thema haben“, erklärt die Wirtschaftshistorikerin. Dann kann es beispielweise darum gehen, dass Soziologen bei der Untersuchung des Unternehmertums in Polen nicht nur qualitative Interviews führen, sondern auch quantitative Methoden anwenden. Bei der Auswahl der geeigneten Methoden hilft dann ein Doktorand der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät mit seinen Statistikkenntnissen. „Das macht es dann interdisziplinär“, sagt Jajeśniak-Quast.
An der Viadrina gefällt ihr auch, dass es sich um eine vergleichsweise kleine Hochschule handelt. Insgesamt hat die Universität rund 4.900 Studierende. „Die Seminare sind nicht überlaufen, in den Vorlesungen kenne ich alle Studierenden mit Nachnamen“, sagt die Professorin. Auch Pola Ostałowska mag die „familiäre Atmosphäre“, wie sie sagt. „Es ist kein bisschen anonym hier und man findet leicht Anschluss.“
Und trotz der vergleichsweise geringen Größe der Hochschule mangelt es an der Viadrina auch nicht an Aktivitäten. Fast 30 studentische Initiativen gibt es. Pola Ostałowska engagiert sich beispielweise bei der studentischen Unternehmensberatung Viadrina Consulting Group. In ihrer Entscheidung für die Europa-Universität sieht sie sich bis heute bestätigt: „Ich studiere das, was ich schon immer studieren wollte und habe mir eine Tür in Richtung meines Heimatlandes offen gehalten.“