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„Ich möchte Frauen durch mein Schreiben helfen, stärker zu werden“

Die chinesische Autorin Zhu Jing schreibt über Verlust und Frauenrollen. Nun war sie für eine Künstlerresidenz zu Gast an der Universität Göttingen.

AutorinMiriam Hoffmeyer, 25.07.2024
Die chinesische Autorin Zhu Jing
Die chinesische Autorin Zhu Jing © privat

„Es fiel mir schon immer schwer, so zu leben wie die anderen, dabei sind sie ganz normale, sogar ganz normale gute Menschen. Aber um zu sein wie sie, muss ich mich sehr anstrengen. Bin ich ein Freak? Als Studentin hatte ich immer gute Noten; als zukünftige Ehefrau wäre ich in der Lage, ein leckeres Abendessen zu kochen. Mein Verhalten entspricht in jedem Sinne den gesellschaftlichen Normen, sei es in moralischer oder sozialer Hinsicht. Und dennoch bin ich zutiefst erschöpft.“ 

Die kurze Erzählung „Bis zu diesem Tag“ der chinesischen Schriftstellerin Zhu Jing handelt von einer jungen Frau, die anscheinend immer alles richtig gemacht hat – bis sie durch eine Fehlgeburt innerlich aus der Bahn geworfen wird. Sie zieht sich zurück und entwickelt einen neuen Blick auf ihre eigenwillige Mutter, die gescheiterte Ehe der Eltern und die Unsicherheit, aus der heraus sie sich für ihren Verlobten und dessen konventionelle Familie entschieden hat. 

Mutterschaft, Geschlechterrollen, innerfamiliäre Machtverhältnisse und der Widerspruch zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Erwartungen: Das sind Themen, mit denen sich Zhu Jing beschäftigt. Im Juni und Juli 2024 war die Autorin im Rahmen des Projekts „Kulturen im Kontakt – Artists in Residence“ an der Georg-August-Universität Göttingen zu Gast. Seit 2008 führt die Hochschule das Programm gemeinsam mit der Universität Nanjing und dem Goethe-Institut China durch. In einem praxisorientierten Projektseminar übertrugen Masterstudierende des Doppelabschluss-Studiengangs „Interkulturelle Germanistik Deutschland-China“ mit der Übersetzerin Karin Betz Auszüge aus Zhu Jings jüngsten Erzählband „Wen die Katze wählt“ ins Deutsche. „Es ist bereichernd zu lesen, wie eine junge Autorin wie Zhu Jing die Verunsicherung, die Wut oder den Frust von Frauen beschreibt, ohne sie zu bewerten. Es wäre schön, mehr von dieser urbanen, lebensnahen, weiblichen Literatur aus China zu lesen statt den hundertsten Roman über die Kulturrevolution“, sagt Karin Betz.

Vielleicht passen das Innehalten, das Nachdenken und die Konzentration, die für das literarische Schaffen erforderlich sind, nicht zu den schnellen Reaktionen, die im Zeitalter der sozialen Medien verlangt werden.
Zhu Jing, Autorin

Zhu Jing, geboren 1982 in Yangzhou in der südchinesischen Provinz Jiangsu, begann mit 20 Jahren zu schreiben. Ihre ersten Erzählungen entstanden neben ihrem Studium der Chinesischen Sprache und Literatur sowie der Theater-, Film- und Fernsehliteratur. Die Texte schickte sie auf eigene Faust an einen Verlag, der sie sofort als Autorin annahm. Damals, zu Beginn des Internetbooms in China, führte Zhu Jing einen Blog, um bei der Leserschaft bekannter zu werden. Heute schützt die Mutter einer elfjährigen Tochter sorgsam ihr Privatleben. „Ich brauche eher einen ‚eigenen Raum‘ als eine Bühne“, sagt sie. „Vielleicht passen das Innehalten, das Nachdenken und die Konzentration, die für das literarische Schaffen erforderlich sind, nicht zu der ständigen Aufmerksamkeit und den schnellen Reaktionen, die im Zeitalter der sozialen Medien verlangt werden.“ Neben dem Roman „Black Hole“ hat Zhu Jing zahlreiche Erzählungen und Märchen veröffentlicht, die bislang nur auf Chinesisch vorliegen.

Nach ihrer Promotion 2021 wurde sie Professorin für moderne chinesische Literatur an der Nanjing Normal University, wo sie unter anderem Literaturkritik und kreatives Schreiben lehrt. „Forschung und Lehre wirken auf mein Schreiben zurück und umgekehrt“, sagt Zhu Jing. Oft fänden Themen und Motive aus den Büchern, mit denen sie sich beschäftige, ein Echo in ihren Texten. Neben der klassischen Literatur Chinas und Japans haben Werke westlicher Autorinnen und Autoren wie etwa Joan Didion und Philippe Forest, die Verlusterfahrungen literarisch verarbeitet haben, sie beeinflusst: „Das Schreiben aus dem Alltag und der eigenen Lebenserfahrung schafft eine starke Energie.“ 

Alltagserfahrungen ganz gewöhnlicher Frauen

Zu ihren Forschungsthemen gehören literarische Frauenverbindungen im China der Ming- und Qing-Dynastien, also vom 14. bis ins 17. Jahrhundert. An diese Vergangenheit möchte Zhu Jing anknüpfen: „Mein Schreiben befasst sich mit der spezifischen Situation von Frauen und sucht seinen Platz in der Tradition des Schreibens von Frauen.“ Erst seit der Jahrtausendwende seien die Fähigkeiten und Leistungen von Frauen in China überhaupt öffentlich sichtbar geworden: „Unsere Gesellschaft ist immer noch sehr stark von Männern dominiert. Meine Zuneigung gehört den ganz gewöhnlichen, durchschnittlichen Frauen, über deren Alltagserfahrungen ich schreibe. Durch mein Schreiben möchte ich Frauen dabei helfen, ihre eigene Situation zu verstehen und stärker zu werden.“

Zum Abschluss von Zhu Jings Artist-in-Residence-Aufenthalt in Göttingen organisierten die Studierenden der Hochschule ein interkulturelles Lesergespräch zwischen Zhu Jing und der deutschen Autorin Daniela Dröscher, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzt. „Eine öffentliche Veranstaltung, auf der chinesische Literatur an ein deutsches Publikum vermittelt wird, ist jedes Jahr der Höhepunkt unseres Projekts“, sagt Studiengangskoordinatorin Barbara Dengel. „Auch diesmal war die Publikumsresonanz groß, denn die Themen der beiden Autorinnen sprechen viele Menschen auch außerhalb der Universität an.“ Dröscher veröffentlichte 2022 den viel beachteten Roman „Lügen über meine Mutter“, der es auch auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis schaffte. „Ich war sehr beeindruckt, wie viele Parallelen es zwischen unseren Themen und Texten gibt, dieser Austausch war für mich sehr bereichernd und wertvoll“, sagt Zhu Jing. „Auch sonst bin ich sehr dankbar für die abwechslungsreichen, vielseitigen Sommerwochen in Göttingen – und werde auf jeden Fall wiederkommen!“