Herausforderung Flüchtlingskrise
Deutschland setzt sich für eine humanitäre europäische Lösung der Flüchtlingskrise ein. Der Politologe Josef Janning bewertet die jüngsten Entwicklungen.
Ein halbes Jahr nach der dramatischen Zuspitzung der Flüchtlingskrise in Europa haben die Staaten der Europäischen Union (EU) im März 2016 eine Vereinbarung erreicht, die den Anfang vom Ende der Krise bedeuten könnte. Bezeichnenderweise reicht dieser Ansatz über die EU hinaus, denn unter sich haben die Europäer das nötige Maß an Gemeinsamkeit und Entschlossenheit nicht aufbringen können. Erst in der Erweiterung des Kreises um die Türkei gelang den europäischen Regierungschefs der Ausgleich widerstreitender Interessen: Die Türkei nimmt jeden nicht-asylberechtigten Migranten zurück, der ihre Grenzen mit der EU überschreitet. Die EU-Staaten nehmen für jeden von der Türkei zurückgenommenen Syrer einen syrischen Flüchtling direkt aus der Türkei auf. Sie unterstützen Griechenland in der zügigen Prüfung von Asylanträgen und verdoppeln bis 2018 die bisher mit drei Milliarden Euro veranschlagte Flüchtlingshilfe an die Türkei. Zusätzlich sagt die EU Visafreiheit für türkische Staatsbürger zu, gekoppelt an die Erfüllung einer Reihe politischer, rechtlicher und technischer Voraussetzungen.
Die mit dem März-Gipfel erreichte Präzisierung des EU-Türkei-Aktionsplans bindet den Erfolg europäischer Flüchtlingspolitik an die Zusammenarbeit mit der Türkei und die Bereitschaft der türkischen Politik zu verlässlicher Kooperation. Die Lage des Landes in einer konfliktreichen Nachbarschaft, seine inneren Risiken und Konflikte und seine rechtsstaatliche Schwäche sind dafür nicht die besten Voraussetzungen. Zugleich sind die EU-Staaten damit näher an die Ursachen der Fluchtbewegungen gerückt. Sie haben die Komfortzone der Kommuniqués, der Geberkonferenzen und der Unterstützung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) verlassen und sind dabei, selbst und direkt in die Versorgung der Millionen von Flüchtlingen im Nahen und Mittleren Osten einzugreifen. Europas Stabilität hängt nun zu einem Teil auch an der Stabilität der Türkei.
Offenbar hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Verknüpfung im Blick, als sie in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 16. März 2016 betonte: „Konflikte, die uns früher sehr weit weg erschienen, betreffen uns heute direkt, und sie werden uns auch in Zukunft immer wieder direkt betreffen.“ Denn die alten Reaktionsmuster der Abschottung funktionieren nicht mehr; die „Kontrolle von Externalitäten“, wie es in der Sprache der Sicherheitspolitik heißt, gelingt nicht mehr in einer enger verzahnten Welt. Für Europa bedeutet dies, aktiv zur Beruhigung und Regelung der vielen Konflikte seiner Nachbarschaft beizutragen, um selbst in Sicherheit und Frieden leben zu können.
Deshalb wird die Verbindung mit der Türkei nur ein Element eines größeren Engagements sein können. In der Gipfelerklärung ist bereits der Hinweis auf eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem Libanon und Jordanien enthalten, wo die Lage der Menschen in den Flüchtlingslagern vielfach kritischer ist als in der Türkei. Die Syrien-Geberkonferenz vom Februar 2016 in London hat Zusagen von 6 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern für 2016 und weitere 6,1 Milliarden US-Dollar für 2017 bis 2020 erbracht. Allein Deutschland wird 2,3 Milliarden Euro bis 2018 beitragen. Entscheidend ist, dass die zugesagten Mittel tatsächlich fließen. Auch werden weitere Schritte folgen müssen im Versuch, eine Verhandlungsregelung des Konflikts in Syrien zu erreichen. Europa braucht strategische Geduld, sowohl zur Entwicklung neuer Regierungsstrukturen in tief gespaltenen und radikalisierten Gesellschaften Syriens und Iraks als auch zur Balance der gefährlichen Rivalität zwischen Iran, Saudi-Arabien und der Türkei. Nordafrika ist ebenfalls gefährdet, regionale Konflikte und Terrorismus können den einzig verbliebenen Erfolg des „Arabischen Frühlings“ zerbrechen – die neue politische Ordnung in Tunesien.
So entsteht aus der mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit der Europäer, ihre Möglichkeiten in der Antwort auf die Flüchtlingskrise wirksam zu bündeln, die Notwendigkeit zu einer stärker engagierten Außenpolitik in der weiteren Nachbarschaft des Kontinents – und dies unter den Vorzeichen einer nachlassenden Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und eines machtpolitisch motivierten Eingreifens Russlands andererseits. Diese Konsequenz wird einigen EU-Regierungen zu schaffen machen, die geglaubt hatten, durch eine Blockade gemeinsamer Politik das Problem wegschieben zu können. Doch es werden auch jene Regierungen umdenken müssen, die glauben, mit genügend Geld ließe sich das Problem auslagern.
Daneben darf allerdings nicht unbeachtet bleiben, dass mit dem europäisch-türkischen Aktionsplan die inneren Probleme der EU noch nicht gelöst sind. Auch hier wächst die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns, vor allem in der raschen Verbesserung der Lage in Griechenland, sowohl was die Versorgung der Geflüchteten als auch die Bearbeitung der Asylanträge angeht. Wenn die Türkei Flüchtlinge nicht mehr in die EU ausreisen lässt, fällt die Schwäche des Außengrenzschutzes der EU weniger stark ins Gewicht, doch das Problem besteht fort. Europa braucht einen effektiven gemeinsamen Grenzschutz, zu dem alle Staaten beitragen. Diese Leistung sollte nicht durch nationale Souveränitätsansprüche blockiert werden können.
Nicht gelöst ist auch die Aufnahme anerkannter Flüchtlinge in Europa. Sie müssen nach Abschluss ihres Asylverfahrens in anderen Ländern der EU Aufnahme finden. Weitere Vereinbarungen werden mit der Türkei notwendig werden, nach Ausschöpfung der 1-zu-1-Regelung zur Rücknahme nicht-asylberechtigter Menschen. In der Folgezeit wird die EU entscheiden, ob Kontingente vereinbart werden, in deren Rahmen Menschen auf direktem Weg aus Flüchtlingslagern in der Türkei nach Europa kommen. Werden sie nicht vereinbart, werden die Türkei, aber auch Jordanien und Libanon die Last der Flüchtlinge allein tragen müssen. Innerhalb der EU ist die politische Bereitschaft zur Lastenteilung in der Aufnahme von Flüchtlingen auch nach dem März-Gipfel brüchig. Die Vereinbarungen basieren auf der freiwilligen Beteiligung der Mitgliedsstaaten. Erkennbar ist, dass sich neben Deutschland eine größere Zahl an EU-Staaten beteiligen wird, wenn der schleppergestützte Weg in die EU wirksam verstellt wird. Die deutsche EU-Politik wird weiter für eine Beteiligung möglichst vieler Staaten werben, und Deutschland wird wahrscheinlich selbst den zahlenmäßig größten Anteil aufnehmen, um „Europa als Ganzes“ zu bewahren. Immerhin eröffnet die Vereinbarung mit der Türkei bei konsequenter Umsetzung die Perspektive einer kalkulierbaren Zuwanderung nach Deutschland und in die EU.
Innenpolitisch war die Einigung von Brüssel am 18. März 2016 ein dringend nötiger Erfolg der Politik Angela Merkels. „Diese Kanzlerin ist seefest, sie ist schwindelfrei. Wer hätte das gedacht? Der Sturm ist ihr Element,“ so kommentierte eine der wichtigsten deutschen Tageszeitungen die Leistung Merkels, die in den Wochen zuvor die Linie der Kanzlerin vielfach kritisiert hatte. Ohne die Brüsseler Einigung fehlte Merkel die glaubwürdige Aussicht auf eine Änderung der Lage. Dazu hatten die im sogenannten Asylpaket II der Regierungskoalition enthaltenen Verschärfungen und Anpassungen im Rahmen des Asylrechts nicht ausgereicht. Der politische Konflikt über die Regierungslinie zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU konnte so nicht beigelegt werden. Auch die wachsende Zustimmung zu nationalpopulistischen Parteien und Gruppierungen blieb davon unberührt. Angela Merkel hatte sich festgelegt, die von der deutschen Öffentlichkeit erwartete kontrollierte Begrenzung der Zuwanderung über eine humanitäre europäische Lösung herbeizuführen. Diese Zusage war innerhalb der EU umstritten und wurde zum Teil offen blockiert, was die Position Merkels auch in Deutschland schwächte. In Brüssel hat die Bundeskanzlerin die Blockade wie die innenpolitische Schwächung über die Vereinbarung mit der Türkei überwunden. Dafür hat sie neue Chancen wie Risiken eingehandelt, die Europas außenpolitische Handlungsfähigkeit fordern.
Neue Bestimmungen
Asylpaket II
Am 17. März 2016 ist in Deutschland das Asylpaket II in Kraft getreten. Es soll dazu beitragen, dass angesichts der rasant gestiegenen Asylbewerberzahlen bestimmte Asylverfahren schneller – im Rahmen einer Woche – entschieden werden. Dies betrifft Antragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten, Folgeantragsteller sowie Asylbewerber, die ihre Mitarbeit im Asylverfahren verweigern. Um die Flüchtlingsströme besser zu bewältigen, wurde zudem der Familiennachzug für Antragsteller mit eingeschränktem Status („subsidiärer Schutz“) für zwei Jahre ausgesetzt. Für allein nach Deutschland geflüchtete Minderjährige können Härtefallklauseln gelten – etwa wenn Kinder oder Jugendliche unter schweren Krankheiten leiden oder Misshandlungen erlitten haben. Hingegen können Geflüchtete, die aus Lagern in der Türkei, in Jordanien und dem Libanon nach Europa kommen, ihre Familien leichter nachholen. Weitere Regelungen sehen eine moderate Senkung der monatlichen Geldbeträge für den persönlichen Bedarf vor und wirken dem Missbrauch von Attesten, die Abschiebungen verhindern sollen, entgegen.