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Ein Wissensvorsprung, der Leben rettet

Das indonesische Tsunami-Frühwarnsystem steht beispielhaft für den Gedanken, der die moderne Katastrophenvorsorge bestimmt: „Preparedness“.

15.04.2016

Es ist der 2. März 2016, 19.49 Uhr Ortszeit, als vor der Küste Sumatras heftig die Erde bebt: 7,7 auf der Richter-Skala. Im Kontrollzentrum des Tsunami-Frühwarnsystems in Jakarta blicken die Mitarbeiter konzentriert auf ihre Monitore. Droht eine Riesenwelle? Mithilfe von Computersimulationen analysieren sie die Werte hunderter Seismometer und Pegelmessgeräte im Indischen Ozean. Keine fünf Minuten nach dem Beben entscheidet der diensthabende Ingenieur, Alarm auszulösen: Stufe gelb. Radio und Fernsehen melden die Gefahr, SMS werden verschickt, in den Küstendörfern heulen an Moscheen installierte Sirenen auf. Doch an diesem Abend bleibt die Welle aus, bald gibt es Entwarnung.

Mehr als 10 000 Kilometer entfernt, im Deutschen GeoForschungsZentrum (GFZ) in Potsdam, hat auch Jörn Lauterjung die Ereignisse verfolgt. Für den Physiker ist das Tsunami-Frühwarnsystem wie ein Kind, das er mit großgezogen hat. Er sei zufrieden, sagt er, dass die „Warnkette“ funktionert hat – auch wenn es diesmal nicht zur Katastrophe kam. „Ich folge da der japanischen Philosophie: Wir hatten keinen Fehl­alarm, wir hatten Glück.“ Bei dem verheerenden Tsunami im Dezember 2004 gab es weder Glück noch Warnung: Etwa 230 000 Menschen starben, obwohl viele von ihnen genug Zeit gehabt hätten, sich in Sicherheit zu bringen.

Hohe Identifikation

Leben retten durch einen Wissensvorsprung: Das ist der Ansatz des Frühwarnsystems. Lauterjung und seine Kollegen haben es mit indonesischen Partnern im Auftrag der Bundesregierung entwickelt. Rund 55 Millionen Euro stellte Deutschland dafür ab 2005 zur Verfügung. 2011 wurde das System an Indonesien übergeben – für den wissenschaftlichen Vater Lauterjung ein schöner Moment, weil er zeigte, „wie hoch dort die Identifikation mit dem Projekt ist“. Die Forscher des GFZ bringen sich weiter als Berater ein und organisieren Schulungen für die 60 Mitarbeiter des Warnzentrums, die in drei Schichten die Erdbebenaktivität überwachen. Seit 2007 lösten sie etwa 20-mal Alarm aus, in 70 bis 80 Prozent der Fälle gab es danach tatsächlich eine Flutwelle.

Doch Hightech und Experten allein bieten noch keinen umfassenden Schutz. Erst mit klugen Notfallplänen und einer gut ­informierten Bevölkerung kommt man ­jener „Preparedness“ näher, die das Ziel moderner Katastrophenvorsorge ist: Die Folgen eines Unglücks sollen schon im Vorfeld abgemildert, menschliches Leid und materielle Schäden vermieden werden. Auch das Tsunami-Frühwarnsystem schließt die Aufklärung der Bevölkerung mit ein: Sogenannte „Disaster-Management-Organisationen“ wurden aufgebaut, die das Wissen über Warnstufen und Fluchtrouten in die Dörfer tragen.

Ob in Indonesien oder anderswo: Wenn Deutschland sich in der Humanitären Hilfe engagiert, ist Vorsorge der bestimmende Gedanke. Im Rahmen der „Pre­paredness-Initiative“ setzt sich die Bundesregierung seit 2011 für mehr Präven­tion ein. Einen Beitrag zur Vorsorge leistet auch ein von Deutschland gefördertes Maßnahmenpaket, koordiniert vom Deutschen Roten Kreuz: Vor allem auf der Grundlage von meteorologischen Daten werden unter anderem in den Pilotländern Bangladesch, Peru und Mosambik Schwellenwerte ermittelt, bei deren Erreichen standardisierte Vorsorgemaßnahmen automatisch ausgelöst werden – bevor eine Katastrophe eintritt. Diese auf Vorhersagen basierenden Schritte bedeuten einen entscheidenden Zeitgewinn.

Auch in der EU und bei den Vereinten Nationen trägt Deutschland dazu bei, die Idee der Vorbeugung zu stärken. So gibt es eine enge Zusammenarbeit mit dem Büro der Vereinten Nationen für Katastrophenvorsorge (UNISDR) und dem Büro für 
die Koordinierung Humanitärer Hilfe (OCHA). Auf europäischer Ebene hat Deutschland mitgewirkt am Konsens über die Humanitäre Hilfe und an der EU-Strategie zur Unterstützung der Katastrophenvorsorge in Entwicklungsländern. Bei der dritten Weltkonferenz der Vereinten Nationen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken 2015 im japanischen Sendai war Deutschland mit einer interminis­teriellen Delegation vertreten. Am Ende des Treffens stand ein Rahmenwerk zur Katastrophenvorsorge, das den vorausschauenden Umgang mit Risiken so stark betonte wie keines zuvor.

Auch Professor Jakob Rhyner war in Japan dabei. Er leitet das Institut für Umwelt und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen und ist Vizerektor der Hochschule in Europa. Als Wissenschaftler hat sich der Schweizer unter anderem mit Lawinenunglücken beschäftigt. Auch in Mitteleuropa habe es Jahrhunderte gedauert, bis sich die Idee der Vorsorge durchsetzte, so Rhyner. Das hatte nicht zuletzt kulturelle Gründe: Katastrophen galten als gottgegeben – und gelten es an vielen Orten bis heute.

Enorme wirtschaftliche Schäden

Ein weiteres Hindernis sind die Kosten. Dabei ist Vorsorge eine Investition, die sich lohnt. Die wirtschaftlichen Schäden durch Naturkatastrophen belaufen sich jährlich auf rund 270 Milliarden Euro. Durch Risikoanalyse und Prävention könnte der Betrag deutlich gesenkt werden, so Rhyner. Jeder Euro für die Vorsorge spare mehrere Euro in der Bewältigung der Folgen. „Gute Vorbereitung ist profitabel.“ Das gelte umso mehr, wenn man die indirekten Schäden einbezieht. Denn Naturkatastrophen werfen oft ganze Länder in ihrer Entwicklung zurück – so wie Haiti.

Mahamadou Issoufou-Wasmeier leitet das Landesbüro der Deutschen Welthungerhilfe in Port-au-Prince. Wenn er durch die Straßen der Hauptstadt läuft, erinnert ihn noch immer vieles an jenen Januartag vor sechs Jahren, als ein schweres Erdbeben die kleine Inselrepublik erschütterte. Mehr als 220 000 Menschen starben, Millionen wurden obdachlos. Die Katastrophe war ein Weckruf. „Seitdem wird hier viel stärker über Risiken nachgedacht.“

Dazu gehören in Haiti neben Erdbeben auch Überschwemmungen oder Dürre­perioden. Das unter El Niño leidende Land kämpft nicht nur mit den großen Katastrophen, sondern auch mit den kleinen, schleichenden. Die Welthungerhilfe denkt Vorsorge deshalb bei all ihren Projekten mit, so Issoufou-Wasmeier. „Für uns ist das ein Querschnittsthema. Ob es um Ernährungssicherung oder Bewässerungssysteme geht – Prävention spielt immer eine Rolle.“

Damit der Einzelne sich im Notfall richtig verhält, hat auch die Welthungerhilfe in Haiti ein weitverzweigtes System der Informationsvermittlung aufgebaut. Über Komitees in den Dörfern bietet sie unter anderem Kurse an, in denen Katastrophen simuliert werden, und die Teilnehmer erfahren, wie sie am besten reagieren. Rund 25 000 Menschen hat die Nichtregierungsorganisation auf diese Weise bereits direkt erreicht.

Doch die tiefe Armut erschwert die Sache. „Das Wissen über den richtigen Schutz ist das eine, die Möglichkeiten der Umsetzung sind das andere“, sagt Issoufou-Wasmeier. Auch Jakob Rhyner verweist auf jene „tieferliegenden Faktoren“, die die Konvention von Sendai betont: Armut, Korruption und Konflikte erhöhen die Gefahr eines Landes, von einer Katastrophe schwer getroffen zu werden. „Wirklich effizient kann man Risiken nur senken, wenn man auch die Armut lindert.“ ▪