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Wie Hobbygärtner der Forschung helfen

Ein EU-Projekt vernetzt Hobbygärtnerinnen und -gärtner auf dem ganzen Kontinent. Sie sollen wichtige Erkenntnisse zur Biodiversität sammeln.

Ralf Isermann, 08.08.2024
Hobbygärtnerinnen sammeln Erkenntnisse zu seltenen Bohnensorten.
Hobbygärtnerinnen sammeln Erkenntnisse zu seltenen Bohnensorten. © INCREASE Léna Prochnow

Wer das Verbindende in Europa sucht, kann es in diesem Jahr unter anderem im Garten finden: die Nacktschnecke. „Dieses Jahr war ganz schlimm“, sagt Kerstin Neumann. Aber es sei auch irgendwie tröstlich gewesen, sich in Italien, Portugal, Frankreich oder Deutschland umzuhören. Die Gärtnerinnen und Gärtner teilten einfach ihr Leid. 

Dr. Kerstin Neumann ist die deutsche Verantwortliche von INCREASE - Intelligent Collections of Food Legumes Genetic Resources for European Agrofood Systems, ein durch das EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 finanziertes Projekt, das darauf zielt, die landwirtschaftliche Biodiversität in Europa zu fördern. Dies geschieht mit Blick auf vier Hülsenfrüchte: Kichererbse, Gartenbohne, Linse und Lupine. Im Rahmen eines sogenannten Citizen Science Experiments werden Hobbygärtnerinnen und -gärtner aus ganz Europa dazu eingeladen, die Forschung am Beispiel der Gartenbohne zu unterstützen. Die Projektverantwortlichen verschicken sie an alle Interessierten. Das Besondere: Es handelt sich dabei um alte, fast vergessene Bohnensorten, zu deren möglichen Erhalt die Hobbyforscherinnen und -forscher wichtige Erkenntnisse sammeln sollen.

So etwa Verena und Albrecht aus dem sächsischen Zwickau, die dort als Teilzeit-Selbstversorger leben. Fünf verschiedene Bohnensorten bekamen die beiden von INCREASE als Samen per Post zugeschickt. Nach einer Anzucht im Haus haben die beiden die jungen Bohnenpflanzen dann in ihrem großen Garten gepflanzt. Ein Großteilwächst nun prächtig. „Die mexikanische Stangenbohne ist auch mit drei von fünf Stück dabei. Ganz okay, die Gute“, sagt Verena, die ihre Gartenleidenschaft als „Naturparzelle 15“ bei YouTube teilt. Während in ihrem Garten sonst vieles einfach so  in den Beeten steht, sind vor den Bohnen weiße Schilder mit Aufschrift der Sorten angebracht. Das ist wichtig, weil Wuchs und Ertrag der Pflanzen möglichst genau erfasst werden sollen.

INCREASE Co-Koordinatorin Dr. Kerstin Neumann
INCREASE Co-Koordinatorin Dr. Kerstin Neumann © LeibnizIPK-J.-S. Himpe

Über 9.000 Teilnehmende

Für Kerstin Neumann ist diese genaue Dokumentation wichtig. Sie ist Wissenschaftlerin am Leibniz Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben in Sachsen-Anhalt. Im Jahr 2021 startete das Institut zusammen mit dem Projektpartner Universita Politechnica delle Marche im italienischen Ancona das INCREASE-Projekt. Über den Winter können sich Bürgerinnen und Bürger bei dem Projekt anmelden. Es gibt eine eigene App, die auch später für die Dokumentation wichtig ist. Die Forscher wollen wissen, wie welche Bohnenart in welcher Umgebung wächst. Das heißt, die Größe des Gartens kann eine Rolle spielen – vor allem aber das Klima an dem jeweiligen Ort. Im ersten Projektjahr gab es 3.000 Teilnehmende, inzwischen sind es über 9.000, aktuell läuft INCREASE in der vierten Runde – und noch bis 2026. 

Bohnenernte mit Notizen zum Wachstumsverhalten
Bohnenernte mit Notizen zum Wachstumsverhalten © INCREASE Léna Prochnow

Wichtige Erkenntnisse für die Forschung

Die Hobbyforscher liefern den professionellen Wissenschaftlern wichtige Erkenntnisse. Etwa,  dass bei manchen Bohnen  die Blühdaten stark von der Länge der Tage abhängen. „Manche mögen die lange Tageslänge nicht“, sagt Neumann. Neuerdings werden auch sehr feinskalige Wetterdaten erhoben. Damit soll der Einfluss von Temperatur und Niederschlag auf das Wachstum festgestellt werden.  

Welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Bohnen hat, wird sich wohl erst in der langfristigen Auswertung der Daten zeigen. Seit Projektbeginn 2021 habe es in jedem Jahr Extremwetter gegeben, sagt Neumann. Zu heiß, zu trocken, in diesem Jahr zu nass – der Wechsel könnte kaum krasser sein als in der kurzen Phase. Bange um die Bohne ist der Wissenschaftlerin aber nicht. „Das Schöne an der Gartenbohne ist, dass sie so unfassbar flexibel ist.“ Deshalb wächst sie im heißen Süden Italiens genauso wie im kühleren Deutschland.

Dokumentation für die App
Dokumentation für die App © INCREASE Léna Prochnow

Europaweiter Austausch

Wie die inzwischen nicht mehr üblichen alten Sorten sich verhalten, interessiert in dem Projekt Menschen aller Altersgruppen. Schulen pflanzen mit oder Kleingärtnerinnen und -gärtner. „Das Projekt bringt so unfassbar viele Menschen zusammen. Von den Gärtnern ohne Erfahrung bis zu den Hobbygärtnern, die keine App bedienen können“, sagt Biologin Neumann. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschen sich weit über ihre eigenen Länder hinaus – in der Erntephase auch über Rezepte für Bohnengerichte.

Neumann spricht von einer „Erhaltungscommunity“. Diese Gemeinschaft hält die ansonsten womöglich bald dauerhaft in Vergessenheit geratenen Bohnensorten lebendig. Das Saatgut wird nämlich auch unabhängig vom eigentlichen Projekt untereinander getauscht. Mehr als 1.300 Menschen sind inzwischen dauerhaft in der Community engagiert. Neumann hat durch den Kontakt in die vielen Länder zwar Unterschiede bei den Teilnehmenden festgestellt, vor allem aber Verbindendes, egal wo in Europa die Teilnehmer leben: „Am Ende sind alle wieder Gärtner.“