„Weg von diesem Entweder-Oder“
Schon vor der Corona-Pandemie hat sich die Soziologin Jutta Allmendinger mit Veränderungen in der Arbeitswelt befasst. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung über „New Work“ und „gute Arbeit“.
Prof. Dr. Jutta Allmendinger: Die vielfach ausgezeichnete Soziologin ist seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität. Zuvor war sie unter anderem Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und arbeitete als Wissenschaftlerin sowohl in Deutschland als auch in den USA.
Frau Professorin Allmendinger, viele Menschen denken bei New Work wahrscheinlich zunächst nur an die Arbeit im Homeoffice. Ist diese Vorstellung vom „Neuen Arbeiten“ zutreffend oder führt sie in die Irre, weil die Industriearbeitswelt ausgeblendet wird?
Beides. Das Homeoffice erlebt in Zeiten der Pandemie einen enormen Aufschwung. Viele Menschen mit Berufen und Tätigkeiten, die man prinzipiell auch zu Hause ausüben kann, kommen seit mittlerweile vielen Monaten nur noch selten an ihren Arbeitsplatz im Betrieb. Ich erlebe das ganz persönlich: Viele Beschäftigte des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung kommen ans Institut, um zusammen zu essen oder einfach nur zu reden. Den Großteil ihrer Arbeit erledigen viele zu Hause. Das ist neu. Und so müssen die administrative Geschäftsführerin und ich das Haus anders steuern. Dazu braucht es eine flexible Organisation der Arbeit, mehr Ressourcen und deutlich mehr Kommunikation, um den Vibe des Hauses zu erhalten. Aber Achtung: Bundesweit sprechen wir über höchstens 25 Prozent aller Beschäftigten, die im Homeoffice arbeiten können. Alle anderen braucht es vor Ort: in den Industriebetrieben, in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, in den Supermärkten und Kaufhäusern, in den Restaurants, in der Landwirtschaft. Das wird oft übersehen.
Wie definieren Sie „Neues Arbeiten“?
Neues Arbeiten ist für mich ein Sammelbegriff für all jene Entwicklungen, die Traditionen hinter sich lassen. Das Arbeiten von zu Hause aus gehört dazu, aber auch die Zusammenarbeit mit Robotern in der Pflege vor Ort, hoch technisierte Arbeitsabläufe in der Industrie, die Arbeit auf Plattformen. Neues Arbeiten betrifft nicht nur Arbeitsinhalte und -aufgaben alleine; es geht auch um eine neue Organisation von Arbeit mit flexibleren Formen von Führung.
Am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) befassen Sie sich mit dem Thema „gute Arbeit“. Wann ist Arbeit gut?
Es gibt viele Definitionen von guter Arbeit. Am WZB haben wir als Ausgangspunkt den Index des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt. Demnach ist gute Arbeit unter anderem geprägt von ausreichenden Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten für die Beschäftigten, einem angemessenen Einkommen, einem sicheren Arbeitsplatz und Mitspracherechten.
Erwerbsarbeit bleibt in jedem Fall für die meisten Menschen sehr wichtig, wie auch Studien des WZB zeigten. Doch unter welchen Bedingungen empfinden Menschen ihre Arbeit als sinnvoll? Welche Rolle spielen Geld oder Work-Life-Balance?
Den meisten Menschen ist eine sinnvolle Arbeit in einem Umfeld, in dem sie geschätzt werden, wichtiger als die Bezahlung. Unsere Vermächtnisstudie, die das WZB zusammen mit der Wochenzeitung Die Zeit und dem Sozialforschungsinstitut infas durchgeführt hat, zeigt dies ganz klar: Viele Menschen würden auch zur Arbeit gehen, wenn sie das Geld gar nicht bräuchten. Und vor allem für Eltern und Menschen, die Angehörige pflegen müssen, ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie extrem wichtig. Aber auch bei vielen jungen Menschen sehen wir: Ihnen liegt an ihrer Karriere, sie wollen sich aber nicht für ihren Beruf verausgaben, sondern Zeit für ihr Privatleben haben.
Wie unterschiedlich sind die Erwartungen an gute Arbeit weltweit?
Die Unterschiede sind deutlich. In Deutschland und vielen anderen Ländern arbeitet die Mehrheit der Beschäftigten glücklicherweise unter einigermaßen gesicherten Bedingungen. Natürlich gibt es viel zu tun, und das Erreichte ist immer wieder zu verteidigen. Wir denken aber viel zu selten an Menschen in Afrika oder in einigen Ländern Lateinamerikas. Hier fehlt oft die institutionelle Absicherung, etwa bei Krankheit oder anderen Krisensituationen. Zudem haben diese Länder oft viel grundlegendere Probleme wie beispielsweise eine mangelnde Nahrungsversorgung oder öffentliche Sicherheit. Wo Hunger herrscht oder sogar die Sorge ums nackte Überleben, denkt man nicht an gute Arbeit. Das geht erst, wenn man selbst und die Familie einigermaßen satt sind.
Mit „Neuem Arbeiten“ verbinden viele Menschen auch die Vorstellung, dass sie künftig mobil und flexibel überall auf der Welt arbeiten können. Aber wie viele Menschen können das wirklich in die Tat umsetzen? Ist New Work in diesem Sinne ein Privileg für die gut ausgebildete, digitale Elite?
Langfristig werden die neuen Arbeitsformen sicherlich mehr und mehr Menschen auf dieser Welt betreffen. Aber sind wir ehrlich: Natürlich ist New Work momentan vor allem ein Trend für eine Elite, wie Sie es ausdrücken. Das ist auch das Problematische an dem Diskurs, den wir darüber führen.
Weiterbildung und lebenslanges Lernen gelten als zentral für die Arbeitswelt. Sie haben diese Begriffe als „Ausdrücke von gestern“ bezeichnet. Wieso?
Beide Begriffe taugen nicht angesichts der schnellen Veränderungen unserer Zeit. Die technologische Entwicklung ist derart dynamisch, auch die Demografie mit Bevölkerungsalterung und Fachkräftemangel stellt uns vor grundlegend neue Aufgaben. Da ist es mit einer kleinen Weiterbildung hier und Brain Jogging dort nicht mehr getan. Und dabei möchte ich nicht falsch verstanden werden: Weiterbildung und lebenslanges Lernen sind wichtig, aber sie müssen endlich Teil eines größeren Wurfs für die Arbeit der Zukunft werden.
Wie werden Erwerbsbiografien künftig aussehen? Werden Menschen künftig mit 50 noch eine neue Ausbildung beginnen?
Das hoffe ich! Wir werden uns zügig von einem Bildungs- und Ausbildungssystem verabschieden müssen, welches uns darauf einstellt, zu Beginn unseres Lebens für den Rest unseres Lebens ausreichend ausgebildet zu sein. Viele Tätigkeiten werden im Zuge der Digitalisierung wegfallen, viele neue Tätigkeiten werden entstehen und in anderen werden die Anforderungen an Kenntnisse und Fertigkeiten viel größer als heute sein.
Wie muss sich das Bildungssystem verändern, wenn sich die Arbeitswelt in immer schnellerem Tempo wandelt?
Es muss viel einladender als heute werden, inklusiver. Es muss besser informieren, aktiv auf die Menschen zugehen. Und es braucht dringend neue Finanzierungsmodelle. Wir brauchen viel mehr Fachkräfte, die die Beschäftigten beraten und über neue Entwicklungen informieren. Prävention ist das Stichwort. Wir sollten nicht erst auf die Arbeitslosigkeit warten, bevor wir in die weiteren Kenntnisse eines Menschen investieren. Wir sollten proaktiv und kontinuierlich dranbleiben. Im Gesundheitsbereich gelingt das an manchen Stellen bereits ganz gut; denken Sie an die Vorsorgeuntersuchungen.
Die Veränderung der Arbeitswelt ist untrennbar mit der Corona-Pandemie verbunden. Sie haben im Dezember 2020, am Ende des ersten Corona-Jahres, in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschrieben: „Sobald das Virus unter Kontrolle ist, wird fast alles wie vorher sein.“ Sehen Sie das immer noch so?
Für mich sind die Digitalisierung und die technologische Entwicklung insgesamt die Treiber neuer Arbeitsformen. Die Pandemie hat ja nur Entwicklungen beschleunigt in einem Land, das sich mit sozialtechnologischem Fortschritt schwertut. Insofern hoffe ich sehr, dass meine Prognose zutrifft: Die Menschen werden zusammenkommen, miteinander persönlich reden, aufeinander neugierig sein.
Die Pandemiezeit ist für viele Menschen geprägt von der Arbeit im Homeoffice und virtuellen Meetings. Was davon wird bleiben? Oder ist es wünschenswert, dass sich die Menschen wieder im Büro treffen?
Wir müssen unbedingt weg von diesem Entweder-Oder. Zeiten im Betrieb sind essenziell, Büros und Betriebsstätten waren und sind ganz wichtige Orte der Begegnung, des Miteinanders. Wir müssen sie schützen zum Wohle des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Das heißt: Vieles werden wir in Zukunft flexibler, digitaler, dezentraler erledigen. Aber ohne jegliche physische Präsenz an einem gemeinsamen Ort gefährden wir letztendlich den sozialen Kitt in unserem Land.
Die Pandemie hat das Arbeitsleben auch sehr unterschiedlich beeinflusst. Während manche problemlos zu Hause arbeiten konnten, war die Belastung etwa für Familien und dabei oft vor allem für die Mütter sehr groß. Welche sozialen Folgen hatte die Pandemie im Arbeitsleben?
Riesige, das wissen wir. Unzufriedenheit, Stress, Einsamkeit sind gestiegen. Die sozialen Unterschiede zwischen Menschen im Homeoffice und jenen, die vor Ort arbeiten, haben zugenommen. Dazu kommen die unterschiedlichen Bedingungen im mobilen Arbeiten selbst. Beschäftigte, die einen ruhigen, ungestörten und technisch gut ausgestatteten Arbeitsplatz haben, können ihrer Tätigkeit und letztlich ihrem Leben ganz anders nachgehen als jene, die in einer für das Arbeiten zu Hause zu kleinen Wohnung leben, mit einem geringen Einkommen zurechtkommen oder sich um kleine Kinder oder pflegebedürftige Eltern kümmern müssen.
Die Pandemie verstärkte vermutlich auch den Trend, dass sich Arbeit und Privatleben vermischen. Bleibt es wichtig, diese Welten zu trennen – oder ist das eine veraltete Vorstellung? Wie kann Abgrenzung in einer digitalisierten Welt überhaupt aussehen?
Nochmals: Das gilt für eine Minderheit der Beschäftigten. Für diese sind klare Regelungen, wann sie für den Arbeitgeber ansprechbar sind, sehr wichtig. Jeder Mensch braucht selbstbestimmte Ruhestunden, sonst verheizt man sich.
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