Der schwere Stand des Ichs
Richard David Precht hat das erfolgreichste Philosophie-Sachbuch geschrieben, das Deutschland je hatte, den Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“.

Wenn einer eine lange Reise mit schwerem Gepäck so leicht und zügig, dabei auch so facettenreich erzählen kann wie Richard David Precht, dann ist das eine Freude. Und eine Leistung, die belohnt wird. Ein deutscher Bestseller, aus einem Stoff, der nicht von vornherein für Träume ist: Philosophie. Aber mit dem Reiseleiter Precht lässt sich selbst mit kantigem oder wittgensteinigem Sperrgut auf eine anregende Weltreise gehen. Er beherrscht den Dreh, Philosophie zu popularisieren, sie knapp und dennoch gehaltvoll zu servieren, sodass sie auch Lesern schmeckt, die ihr Berufsleben eben nicht im philosophischen Elfenbeinturm verbringen, zwischendurch aber auch mal fragen, woher sie eigentlich kommen, wohin sie gehen und was das große Ganze soll.
Für sie hat Richard David Precht, Jahrgang 1964, einen Titel gefunden, der wie Nonsense, aber auch hintersinnig intelligent daherkommt: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Es ist der nächtliche Satz eines Freundes mit heiserer Kehle, wie der gern Anekdoten und hübsche Erlebnisse einstreuende Autor verrät.
Ob es nun schräge Poesie ist oder doch eher ein instinktsicher gestrickter Bestsellertitel, er könnte auch ein Handicap sein: Denn Buchkäufer, die solche Lebenshilfe-Titel prinzipiell ignorieren, könnten glatt übersehen haben, dass unter dem launigen Cover eine kompetente Erzählung mit philosophischen Fragen steckt. Deren Reiz vor allem darin besteht, dass die Antworten von Descartes, Rousseau, Nietzsche, Sigmund Freud und wie sie alle heißen mit dem Stand der heutigen Naturwissenschaften abgeglichen werden. Vor allem mit der Hirnforschung, die Precht immer wieder fasziniert ansteuert – um dann doch lieber Kantianer zu bleiben.
So ist das Buch nicht nur eine rasante Zeitreise durch die Philosophiegeschichte, sondern auch ein gut verständlicher Abriss der Hirnforschung, von ihren eigentümlichen Anfängen bis zu neuen Studien, nebst „spannenden Impulsen“ und Anklängen etlicher Überheblichkeit, mit der „Hirnforscher glauben, ihre Forschung würde die Philosophie und vielleicht auch die Psychologie arbeitslos machen“. Precht versteht es, solche Auseinandersetzungen so herauszuschälen, dass die Rangkämpfe in unserem neurobiologischen Zeitalter deutlich werden, etwa zwischen Freudianern und Hirnforschern, die „das Ich durchstreichen möchten“. Und er zeigt den großen Wald, der vor lauter Bäumen kaum mehr überblickt werden kann; in seinen eigenen Worten ist es „Orientierungshilfe im Dickicht der Wissenschaften“.
Für „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Precht eine dreiteilige Schneise geschlagen, mit den Kant’schen Grundfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Im ersten Kapitel veranschaulicht er, auch mit Einstiegshilfen wie dem John-Lennon-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“, die Voraussetzungen des Denkens. Wie alles begonnen haben könnte mit den Menschentieren vor Jahrmillionen, als sich die Größe des Gehirns sprunghaft verdreifachte. Die prekäre Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren ist sein Herzensthema, das er auch im zweiten Teil, im klassischen Philosophiefach Ethik, anspricht: Der Mensch, ein moralfähiges Tier? Dürfen wir Tiere essen? Wie sollen wir mit Menschenaffen umgehen? Um das Nachdenken anzustoßen, malt Precht auch schon mal ein Gruselszenario, in dem der Mensch nicht die „Krone“ der Schöpfung ist, sondern auch nur Tiermaterial.
Wiederum mit Kant und jetzt dem Utilitaristen Jeremy Bentham geht es dann breit hinein in bioethische Fragen, die zum alten Himmel schreien und die Rechtsprechung wie auch die Medizin schon längst erschüttern. Vor allem die Hirnforscher hätten „in gewisser Weise die Deutungsmacht an sich gerissen“, meinte Precht kürzlich in einem Interview im „Stern“. Natur- und Geisteswissenschaften gehörten aber wieder zusammengespannt, wenn es um den Menschen gehe. Wobei die Philosophie sich nicht zurückziehen dürfe auf „Altbausanierung im Bereich des Geistes“, sondern mehr an Gegenwartsfragen arbeiten müsse: „Philosophie ohne Naturwissenschaften ist leer, und Naturwissenschaften ohne Philosophie sind blind.“
Querverbinder ist Richard David Precht auf vielfache Weise, nicht nur zwischen den Wissenschaftsinseln. In der „Philosophischen Reise“ verschränkt er auch immer wieder das antagonistische Begriffspaar Verstand und Gefühl. Wer regiert die Welt? Greift Kants kategorische Aufforderung zum Gutsein noch? Und was ist da heute im Schwange? Der Verstand ist nur der Knecht des Willens, befand Schopenhauer. Ja, wer führt das Kommando im Hirn? Hat das Ich nur eine materielle Basis? Ist es allein das Werk der Neuronen, Botenstoffe, Hormone? Was geht vor im Oberstübchen Gehirn? Precht muss wieder in die Werkstatt der Hirnforscher, zu den Stirnlappen und den Spiegelneuronen – und er kann Wissenschaften erzählen wie ein Krimi-Schriftsteller. Mit Kompetenz und Präzision, aber auch mit Mut zur Verdichtung, zum Weglassen und spielerischen Fadendrehen sowie einer geläufigen Alltagssprache kommt er zu einem eleganten, ansprechenden Stil. Es mache keinen Sinn mehr, sagt Precht, heute so zu schreiben wie Kant, der sich an der lateinischen Schulgrammatik orientierte, oder wie Hegel, „ein lausiger Stilist“ – „Hegel konnte wirklich nicht schreiben, das ist einer der Gründe, warum die Texte so schwierig sind“. Seine eigene Dissertation über die „gleitende Logik der Seele bei Robert Musil“ sei auch noch so „ein aufgeblasenes Zeug“ gewesen, bekennt Precht, aber er habe sich von der an der Uni antrainierten Kompliziertheit, dem Jargon, glücklicherweise wieder befreit.
Und was darf der Mensch hoffen? Im dritten Teil der „Philosophischen Reise“ geht es mit Anselm von Canterbury, Husserl und Sartre, Luhmann und Epikur um Gott, Freiheit und Eigentum, um Gerechtigkeit, Glück und Liebe. Womit Precht – der mit seiner Frau, der luxemburgischen Fernsehjournalistin Caroline Mart, in einer Familie mit vier Kindern lebt – auch schon beim nächsten Buch ist: „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“. Ein Parcours, der leicht auch in einen Bestseller münden könnte.