„Unsere Geförderten agieren mit großer Freiheit“
Professorin Maria Leptin, Leiterin des Europäischen Forschungsrates, über die Rolle der Wissenschaft in herausfordernden Zeiten.

Frau Professorin Leptin, in den USA erleben wir derzeit einen Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft. Viele Institutionen stehen offenbar so unter Druck, dass Forscherinnen und Forscher sich selbst zensieren, um keine Kürzung von Fördergeldern zu riskieren. Beunruhigt Sie diese Entwicklung?
Ja, das beunruhigt mich sehr. Wir beobachten ja nicht nur einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, sondern haben es mit einer sehr breiten Erosion demokratischer Prozesse zu tun, die tief in die Gesellschaft hineinreicht – auch bei uns hier in Europa. Mich wundert es nicht, dass die Wissenschaft, die darauf angewiesen ist, neue Denkmuster zu etablieren und neue Perspektiven einzunehmen, hiervon besonders stark betroffen ist.
Warum misstrauen immer mehr Menschen der Forschung?
Es ist inzwischen gut untersucht, dass Menschen stark dazu tendieren, an einmal gefestigten Meinungen festzuhalten, statt sich an Fakten zu orientieren. Neu ist, dass Akteure mit sehr großer politischer und ökonomischer Macht diesen Trend noch zusätzlich verstärken. Das ist extrem beunruhigend.
Ist die Wissenschaft in Europa in der Lage, solchen Entwicklungen Stand zu halten?
Die Forschung in Europa ist gut aufgestellt. Zumindest in Deutschland ist die Wissenschaftsfreiheit ja im Grundgesetz verankert. Wir haben ein wirklich gut funktionierendes Fördersystem auf europäischer Ebene und geben viel Geld dafür aus, dass Pionierforschung am Ende auch der Gesellschaft zugutekommt. Seit Anfang 2021 stehen uns im Europäischen Forschungsrat bis 2027 mehr als 16 Milliarden Euro zur Verfügung. Und wir nehmen das Problem der zunehmenden Wissenschaftsskepsis sehr ernst und entwickeln Maßnahmen, um die Wissenschaftskommunikation in die Gesellschaft hinein zu verbessern.
Welche sind das zum Beispiel?
Der Europäische Forschungsrat lobt jedes Jahr einen Preis für öffentliches Engagement in der Forschung aus. Ausgezeichnet werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Gesellschaft in ihre Arbeit einbeziehen. Zu den Preisträgern 2024 zählt ein Forscher aus Frankreich, der zusammen mit einer Gemeinde in Irland im Bereich Wellenforschung arbeitete und genau auf die Gegebenheiten vor Ort zugeschnittene Wettervorhersagen liefern konnte. Oder ein Forscher aus Deutschland, der gemeinsam mit Betroffenen ein interaktives Recherchetool zur Behandlung von psychischen Krankheiten entwickelte. Wir wollen damit das Signal senden: Wissenschaftler gehören nicht zur abgehobenen Elite. Sie sind nahbar und leisten einen echten Mehrwert für die Gesellschaft.
Der Europäische Forschungsrat (ERC), den Sie seit 2021 leiten, gilt als eine der wichtigsten Forschungsförderorganisationen weltweit. Was macht ihn so erfolgreich?
Ein wichtiges Merkmal ist die Fokussierung auf Forschungsideen, ohne dass andere Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Was zählt, ist ausschließlich die wissenschaftliche Exzellenz. Wissenschaftlicher Fortschritt wird maßgeblich durch Forscherinnen und Forscher vorangetrieben, die aus eigener Neugier heraus neue Erkenntnisse gewinnen möchten. Dem wollen wir Rechnung tragen. Wer eine Förderung erhält, entscheidet ein hochkarätiges internationales Auswahlgremium; wir operieren hier gewissermaßen auf Champions-League-Niveau. Das funktioniert so gut, dass viele unserer Geförderten wissenschaftliche Durchbrüche erzielen. Das hat auch damit zu tun, dass es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern möglich ist, mit großer Freiheit agieren zu können.
Was meinen Sie damit?
Nehmen Sie als Beispiel den RNA-Impfstoff, den BioNTech in Zusammenarbeit mit Pfizer während der Corona-Pandemie zur Verfügung stellen konnte. Das war nur möglich, weil der Mitgründer Uğur Şahin schon Jahre zuvor mit Geldern des ERC seine Grundlagenforschung zur Krebstherapie mittels RNA durchführen konnte. Ohne diesen recht frei angelegten Forschungsfokus wäre es BioNTech später nicht möglich gewesen, in Rekordgeschwindigkeit auf die Herstellung von Covid-19-Impfstoffen umzusatteln.
Europa ist nach wie vor weltweit führend in der Forschung, hat aber Defizite beim Wissenstransfer in die Praxis. Wie kann dieser Herausforderung begegnet werden?
Es gibt durchaus europäische Universitäten, die sehr darauf bedacht sind, Grundlagenforschung in die Anwendung zu bringen. Dann gibt es zum Beispiel eine Ausgründung, die sich daran machen will, ein Produkt auf den Markt zu bringen. Bislang scheitert das aber leider oft, weil der Zulassungsprozess für die einzelnen Länder zu kompliziert ist. Solange wir diese Hürden nicht beseitigen, bleibt der Transfer von der Wissenschaft in die breite Anwendung schwierig.
Halten Sie es für möglich, dass im Zuge der Entwicklungen in den USA dortige Spitzenforscher den Weg zurück nach Europa suchen? Für Max-Planck-Präsident Patrick Cramer gelten die USA sogar als „neuer Talentpool“ für den Standort Deutschland.
Objektiv mag das stimmen, aber ich sehe das etwas anders als Patrick Cramer. Unser Hauptanliegen sollte es doch sein, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA zu unterstützen, die ja inzwischen wirklich unter erschwerten Bedingungen arbeiten müssen. Das finde ich viel wichtiger als den Gedanken, die schwierige Lage unserer Kolleginnen und Kollegen zu nutzen, um den Standort Deutschland zu stärken.
Maria Leptin
Die renommierte deutsche Entwicklungsbiologin und Immunologin ist seit Oktober 2021 Präsidentin des Europäischen Forschungsrats. Zuvor leitete sie als erste Frau die European Molecular Biology Organization. Maria Leptin setzt sich unter anderem dafür ein, Europa im globalen Wettbewerb als attraktiven Forschungsstandort zu positionieren.
Europäischer Forschungsrat
Der Europäische Forschungsrat (European Research Council) wurde 2007 von der Europäischen Kommission gegründet, um Pionierforschung in Europa zu fördern. Er ist Teil des EU-Rahmenprogramms für Forschung und Innovation „Horizont Europa“.