„Brückenbauer“ zwischen Sprachen und Kulturen
Die Sprachwissenschaftlerin Claudia Maria Riehl sieht große Vorteile darin, dass die deutsche Gesellschaft immer mehrsprachiger wird.
Die Sprachwissenschaftlerin Claudia Maria Riehl von der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht zur Mehrsprachigkeit. Sie spricht darüber, wie weit sie in Deutschland verbreitet ist, welche Herausforderungen damit verbunden sind und wie sie weiter gefördert werden kann.
Frau Professorin Riehl, wie mehrsprachig ist Deutschland?
Die deutsche Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in zwei Richtungen deutlich verändert. Zum einen haben immer mehr Menschen eine andere Muttersprache als Deutsch oder wachsen zweisprachig auf. In München zum Beispiel hatten 1950 nur vier Prozent der Bürgerinnen und Bürger einen Migrationshintergrund, heute sind es fast 50 Prozent. Dazu kommt, dass immer mehr Menschen mit Deutsch als Muttersprache zumindest gut Englisch sprechen.
Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für das Bildungssystem?
Die Schulklassen werden immer heterogener. Das bedeutet einerseits, dass bei vielen Kindern mit Migrationshintergrund die Deutschkenntnisse stärker gefördert müssen. Es muss aber auch die Mehrsprachigkeit von allen Schülerinnen und Schülern gefördert werden. Wir sollten dafür den Fremdsprachenunterricht intensivieren und ausweiten. Das bedeutet auch, dass nicht nur die Weltsprache Englisch als Fremdsprache angeboten wird.
Welche Chancen bietet Mehrsprachigkeit?
Sie hat einen großen Mehrwert für jeden Einzelnen. Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, können aber auch für die Gesellschaft Brückenbauer und Vermittler sein. Das ist ein Vorteil, den man in einer globalisierten Welt nicht unterschätzen sollte. Denn mit einer Sprache ist auch kulturelles Wissen verbunden. Nicht zuletzt ist es für Deutschland ein wirtschaftlicher Vorteil, wenn Unternehmen mehrsprachiges Personal haben.
Wie wichtig ist der in Deutschland an vielen Schulen angebotene muttersprachliche Unterricht?
Dieses Angebot ist unglaublich wichtig. Zum einen würden mehrsprachig aufwachsende Kinder sonst in der schriftlichen Sprache einsprachig bleiben, weil sie die schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Muttersprache nicht lernen. Damit würde auch das wirtschaftliche Potenzial verschenkt. Zudem zeigen Studien, dass muttersprachlicher Unterricht positive Auswirkungen auf die Deutschkenntnisse hat.
Wie könnte die Mehrsprachigkeit von allen Schülerinnen und Schülern gefördert werden?
Eine Möglichkeit ist der sogenannte sprachsensible Unterricht. Dabei werden die unterschiedlichen Sprachen der Schülerinnen und Schüler auch in Fächern wie Mathematik, Physik oder Geschichte eingesetzt, indem etwa Fachbegriffe daraus hergeleitet werden. Zudem gibt es mehrsprachige Programme, die einen Vorbildcharakter haben. In den bundesweiten Europaschulen wird zum Beispiel bilingualer Unterricht bis zum Schulabschluss angeboten. Auch dabei geht es nicht um die Sprache allein, sondern immer auch um das Verstehen anderer Kulturen. Das ist fast noch wichtiger in unserer mehrkulturellen Gesellschaft.