Ein Studienwerk für Muslime
Wie zwei Studenten das erste muslimische Studienwerk Deutschlands gründeten – und damit eine akademische Heimat für junge Muslime schufen.
Bülent Uçar war skeptisch, als zwei Studenten ihm 2010 eine Email mit ihrer Idee schickten. Die beiden träumten von einem Studienwerk für Muslime. Ob er sie nicht mal treffen wolle, um das zu besprechen? Uçar fand sie etwas überambitioniert, erzählt er heute, und außerdem hatte er kaum Zeit. Er war Professor für Religionspädagogik in Osnabrück und auch sonst sehr beschäftigt, er fuhr ständig durch Deutschland, weil er am Aufbau mehrerer islamtheologischer Institute beteiligt war. Trotzdem schlug er den Studenten ein Treffen im Café vor, 20 Minuten plante er für sie ein. Am Ende blieb er zwei Stunden.
Die Studenten waren Beschir Hussain und Matthias Meyer und gehören heute zu den 13 Gründungsmitgliedern des Avicenna-Studienwerks in Osnabrück. Warum, fragten sich die beiden, gibt es ein katholisches, evangelisches und jüdisches Studienwerk – aber kein muslimisches? Ihre Vision war genau das: Ein muslimisches interdisziplinäres Studienwerk, das sich der Integration widmet, dem der Islam als Wertekodex zugrunde liegt und das diese Werte in die moderne Welt übersetzt. „Ihre Gedanken und Worte waren strukturiert, die beiden waren sehr überzeugt von ihrer Idee“, sagt Uçar heute. Diese Überzeugung steckte ihn an. „Ich setze mich in meiner Arbeit für eine Gleichstellung der Religionen und damit für das Ankommen der Muslime in der deutschen Gesellschaft ein“, sagt er. „Ein muslimisches Studienwerk ist eine Ebene davon, die ich nicht auf dem Schirm hatte.“
Die Idee wuchs und wuchs – und wurde 2012 mit der Gründung des gemeinnützigen Vereins Realität. Seitdem ist Uçar Vorstandsvorsitzender. Das Studienwerk wird durch Spenden von Unternehmen, Privatpersonen und Stiftungen wie der Mercator-Stiftung finanziert. Neben einem wissenschaftlichen Beirat gibt es auch einen religiösen.
Anerkennung durch das Bildungsministerium
Der bedeutendste Moment für Uçar kam 2013 – das Avicenna-Studienwerk erhielt die offizielle Anerkennung des Bildungsministeriums, die bis heute nur 13 Begabtenförderungswerke in ganz Deutschland erhalten haben. Es gab einen Empfang und eine Pressekonferenz – Uçar sagt: „Das alles war ein Riesenereignis. Ich war so aufgeregt, das Studienwerk war wie ein Baby für mich.“
Als Uçar noch selbst studiert hatte, wäre er nie auf die Idee gekommen, sich für ein Stipendium zu bewerben. „Ich dachte, dafür müsste man Ärztesohn sein“, sagt er. Und genau da liegt die Antwort auf die Frage, warum ein muslimisches Bildungswerk so wichtig ist. „In erster Linie studieren Menschen, die zur Bildungselite gehören und aus wirtschaftlich gutgestellten Haushalten kommen“, sagt Uçar. „Und religiöse Minderheiten zum Beispiel fühlen sich oft nicht angesprochen, wenn es um Begabtenförderung geht.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat es in seinen Glückwünschen per Videobotschaft zum zehnjährigen Bestehen so ausgedrückt: „Die Gründung des Avicenna-Studienwerks war wirklich ein besonderer Moment für das akademische Leben. Jetzt bekamen auch begabte junge Muslime eine besondere akademische Heimat in Deutschland.“
1.000 geförderte Studierende bisher
2024 hat das Studienwerk den Meilenstein der 1.000 geförderten Studierenden erreicht. Es unterstützt finanziell und ideell. Das Grundstipendium umfasst bis zu 812 Euro pro Monat, zusätzlich gibt es 300 Euro Büchergeld. Promovierende werden – abhängig vom Einkommen – mit 1.350 Euro unterstützt, plus 100 Euro Forschungspauschale.
Die ideelle Förderung besteht aus einem Programm, das die Studierenden mitgestalten. Sie dürfen angeben, was sie sich wünschen – dann kommt ein Gremium zusammen, das ihre Vorschläge anhand der finanziellen Möglichkeiten sortiert und strukturiert. Dadurch kommen Arbeitsgemeinschaften im Bereich Wirtschaft, Medizin, Jura, Religion, Kultur oder Musik zustande – und das Studienwerk bietet etwa Workshops, Kolloquien oder Summerschools an. Am Ende sei vor allem das Netzwerk enorm karrierefördernd, das sich die Studierenden aufbauen, sagt Uçar – mit Alumni, mit Mentorinnen und Mentoren oder mit den Stipendiaten anderer Förderwerke.
Kriterien für die Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten
„Wir verlangen drei Dinge“, sagt Uçar, wenn es um die Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten geht: Sie sollen Leistung zeigen, ehrenamtlich tätig sein und dem Islam angehören. Noten könnten durch gesellschaftliches Engagement ausgeglichen werden. Dabei gebe es aber keine Richtlinien. „Uns ist wichtig, dass die jungen Leute der Gesellschaft etwas zurückgeben. Der alten Nachbarin die Einkäufe tragen oder kostenlose Hausaufgabenhilfe anbieten – alles ist möglich“, sagt Uçar.
Die Frauenquote bei den Bewerbungen liegt übrigens konstant bei 60 Prozent. Zu wenige Männer also. Das strukturelle Problem dahinter sei bekannt, sagt Uçar: „In den 60er und 70er Jahren war es die katholische Frau vom Land, für die Bildung aus strukturellen Gründen schwer zugänglich war. Heute ist es der muslimische oder migrantische Mann aus der Stadt.“
Neulich bekam Uçar eine Email von einer Frau, die mithilfe des Stipendiums Medizin studieren konnte und Ärztin geworden ist. Sie war als Kind mit ihrer Mutter und den fünf Geschwistern aus Afghanistan in den Norden Deutschlands geflohen. Die Mutter arbeitete als Reinigungskraft und hätte ihrer Tochter das Studium nicht finanzieren können, schrieb die Ärztin und bedankte sich. „Ich habe sie dann gebeten, dem Studienwerk etwas zurückzugeben – als Mentorin“, sagt Uçar. Die Ärztin antwortete: „Selbstverständlich!“