Essen wie Gott in Deutschland
Nie zuvor gab es so viele erstklassige Restaurants auf Sterne-Niveau. Eine kulinarische Spurensuche für Feinschmecker.

Spitzenküche in Deutschland – das klang noch vor ein paar Jahren so unwahrscheinlich wie Haute Couture aus Castrop-Rauxel. Doch mit dem aktuellen Guide Michelin ist es nun amtlich: Deutschland ist ein Gourmetparadies. Noch nie funkelten so viele Sterne über deutschen Restaurants, gleich 37 neue hat der weltbekannte Gastronomieführer spendiert, insgesamt gibt es jetzt 255 ausgezeichnete Adressen zwischen Flensburg und Bodensee. In Europa hat nur noch Frankreich mehr zu bieten. Was ist passiert?
Lang ist’s her, dass Eckart Witzigmann, Begründer des ersten deutschen Küchenwunders, in den 1970er-Jahren für Crème fraîche nach Paris fahren musste. Mittlerweile sind seine „Enkel“ am Ruder, ganz vorn, ganz oben: Kevin Fehling, 35, aus dem „La Belle Epoque“ in Travemünde, jüngster Nachwuchs im Club der Drei-Sterne-Köche – und typischer Vertreter der neuen kreativen Generation am Herd. Einer, der souverän zarten Kaisergranat mit erdigem Möhrenpüree, Mandarinengel, Rosenperlen und asiatischen Gewürzen kombiniert. Wie seine Kollegen, steht er dabei sicher auf dem Fundament der französischen Küche, setzt an zu fernöstlichen Höhenflügen und lässt sich auch von der Molekularküche des Spaniers Ferran Adrià inspirieren, indem er mit Texturen und Temperaturen spielt. Selbstverständlich ist er auch noch ein perfekter Handwerker und weitgereist. Ja, die junge Garde kocht frei von Zwängen – außer dem, ungemein innovativ zu sein, eigenes Profil zu entwickeln, um sich abzuheben von den vielen anderen ebenso guten Kollegen.
In der Tat, noch nie war die deutsche Küche so interessant und vielfältig. Wer durchs Land reist, kann Tim Raues einzigartige chinesisch inspirierte Kreationen in Berlin-Kreuzberg genießen, mit denen er aromatische Trommelwirbel veranstaltet und sich traut, komplett auf Nudeln, Reis und Kartoffeln zu verzichten. Dann geht’s weiter ins „La Vie“ nach Osnabrück zu Thomas Bühner, den das Genuss-Magazin „Feinschmecker“ zum „Koch des Jahres 2012“ gekürt hat: Wie kaum ein anderer verbindet er eine schwindelerregende Fülle bester Produkte zu einem Gesamterlebnis. Ein Muss ist ein Abstecher nach Wolfsburg zu Sven Elverfeld im „Aqua“, der Traditionelles wie Pizza, Borschtsch und Frankfurter Grüne Sauce atemberaubend dekonstruieren kann. Reservieren sollte man dann bei Joachim Wissler im „Vendôme“ in Bergisch Gladbach, dem wohl intellektuellsten, experimentellsten Kopf an einem deutschen Herd – um sich schließlich im ruhigen Baiersbronn niederzulassen.
Ein unscheinbarer Ort im Schwarzwald, eine Kultstätte für Genießer. Hier vereinigen Harald Wohlfahrt (3), Claus-Peter Lumpp (3) und Jörg Sackmann (1) die höchste Sternedichte in Deutschland. Primus des Dreigestirns ist ein besonnener Mann mit Seitenscheitel, scheuem Lächeln und langer Pinzette: Harald Wohlfahrt, unangefochten Deutschlands bester Koch, hält seit 20 Jahren drei Sterne, seine französisch-elegante Küche ist immer noch das Maß aller Dinge. Unzählige junge deutsche Köche haben bei ihm gelernt, seine Perfektion aufgesogen.
Und warum gerade Baiersbronn? Weil Baden-Württemberg Deutschlands Genießerregion ist, mit der Nähe zu Frankreich, den Spitzenweinen, dem lieblichen Klima und einer Gasthauskultur, die mit Liebe zur regionalen Küche punktet. Dabei ist Frankreich allein längst nicht mehr das einzig seligmachende Vorbild. Deutsche Köche holen sich ihre Inspirationen aus der modernen baskischen Küche mit ihren experimentellen Techniken, den Schäumchen und Sphären. Sie schauen neugierig nach Skandinavien, wo der Kopenhagener René Redzepi als Vorbild einer modernen Naturküche verehrt wird, die ihre Schätze direkt vor der Haustür hebt. Da werden auch in Deutschland plötzlich Tellerlandschaften entworfen, die sich Wald- und Strandspaziergänge nennen – während schon mal Südamerika als nächster Trend an die Tür klopft.
So ist in Deutschland eine weltoffene Avantgardeküche entstanden, die sich gleichzeitig selbstbewusst der eigenen Wurzeln besinnt. Galt es früher noch als Qualitätsmerkmal, wenn der Rungis-Laster, vollgepackt mit Delikatessen, vor der Tür hielt, suchen die Köche heute bewusst Produkte in der Nähe. Sie ziehen Havelzander dem Thunfisch vor und kommen ohne Trüffel gut über den Winter. Man entdeckt den Luxus des Einfachen, „Bio“ ist ein großes Thema. Historische Gemüsesorten wie die Haferwurzel werden ebenso salonfähig wie alte Schweinerassen. Klar, dass hier nicht nur das Filet in die Pfanne kommt, sondern auch die „unedlen“ Teile wie Kinn und Bauch.
„Gute Produkte sind die Basis der Küche“, sagt der Berliner Spitzenkoch Daniel Achilles und beneidet seine Mitstreiter, die sogar eigene Gärten kultivieren, aus denen sie schöpfen, wie Johannes King auf Sylt oder Michael Hoffmann vor den Toren Berlins. Apropos Berlin! Die Hauptstadt lockt mit der aufregendsten Restaurantszene des Landes, internationalen Gästen und spannenden Lokalitäten. Oft weiß man nicht, was gerade das neueste Stadtgespräch ist: das Lokal in der alten Brauerei, in der ehemaligen Mädchenschule oder im schummrigen Hinterhof. Und wen wundert es da noch, dass sich auch die Köche selbst verändert haben. Passé ist der Typ „Alleinherrscher am Herd“ mit ausgeprägtem Bauchgefühl. Die jungen Meister sind smarte Kopfarbeiter, begehrt als Fernsehköche und Werbepartner, die sich bei Marathonläufen und Ayurveda erholen. Viele haben Promistatus erlangt, beschäftigen fleißig PR-Agenturen.
Alles paletti also in Deutschland? Nicht ganz! Es gibt immer noch mehr Menschen, denen das Motoröl lieb und teuer ist, die aber beim Olivenöl knausern, die – anders als etwa in Frankreich – wenig Wertschätzung haben für den vergänglichen Genuss eines großen Menüs. Und auch im Ausland sind unsere deutschen Stars noch Nobodys. Die Sterne, sie sind da, es fehlt nur noch ein wenig der Glanz, der über die Landesgrenzen hinaus strahlt. ▪