„Demokratie durch viele demokratische Erfahrungen stärken“
Wie Volksabstimmungen und Bürgerräte Parlamentswahlen ergänzen können, erklärt Claudine Nierth vom Verein Mehr Demokratie.
Frau Nierth, „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Reichen Parlamentswahlen aus Ihrer Sicht dafür aus?
In dem Artikel ist neben Wahlen auch von Abstimmungen die Rede. Auf Bundesebene handelt es sich dabei aber noch um ein uneingelöstes Versprechen, weil es keine nationalen Volksabstimmungen gibt. Die Bürgerinnen und Bürger sind für mich aber schlichtweg unterfordert, wenn sie in ihrem Leben nur bei zehn bis 15 Bundestagswahlen entscheiden können. Außerdem lässt sich Demokratie am besten dadurch stärken, dass man viele demokratische Erfahrungen schafft. Auf kommunaler Ebene und in den Bundesländern gibt es in Deutschland schon Möglichkeiten der direkten Demokratie durch Volksabstimmungen.
Es gibt aber Bedenken, dass Volksabstimmungen anfälliger für populistische Forderungen sind und zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen können.
Wir erleben momentan doch eher, dass Rechtspopulisten versuchen, die Parlamente auszuhöhlen. Instrumente der direkten Demokratie können den Populismus entlarven. Denn es wird ja zum Beispiel geprüft, ob Forderungen überhaupt mit dem Grundgesetz übereinstimmen. Dem Risiko der Polarisierung könnte man dadurch begegnen, dass sich Bürgerräte vor einer Volksabstimmung mit dem Thema befassen. Ein solcher Rat könnte Informationen für die Abstimmung liefern und auch Empfehlungen geben.
Geht es Ihnen also darum, verschiedene Formen der demokratischen Beteiligung miteinander zu kombinieren?
Genau, solche Kombinationsmöglichkeiten werden auch schon Stück für Stück in den Kommunen und in den Bundesländern erprobt. Ideal finde ich, wie die verschiedenen Möglichkeiten in Irland miteinander verbunden sind. Da gibt es ein starkes Parlament, das sich zugleich in verschiedenen Fragen immer wieder von Bürgerräten beraten lässt. Und bei entsprechenden Empfehlungen wird über die Änderung der Verfassung in Referenden entschieden.
So ging man etwa bei zwei Fragen vor, an die sich die Politik im stark katholisch geprägten Irland lange nicht herangetraut hatte: das Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe. Bürgerräte befassten sich mehr als ein halbes Jahr mit diesen Fragen und empfahlen am Ende mit Zweidrittelmehrheit, das Abtreibungsrecht zu legalisieren und die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen. Diese Empfehlungen wurden in Volksabstimmungen mit den notwendigen Zweidrittelmehrheiten bestätigt und in der Verfassung verankert.
In Deutschland legte Anfang 2024 der erste vom Deutschen Bundestag eingesetzte Bürgerrat Empfehlungen zum Thema „Ernährung im Wandel“ vor. Wie bewerten Sie die Arbeit und die Ergebnisse dieses Rats?
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Aufgabe sehr ernst genommen. Sie haben sich sachkundig gemacht und am Ende neun Empfehlungen für die Politik herausgearbeitet. Dabei haben sie auch großes Sozialbewusstsein gezeigt und überhaupt nicht zuerst an ihre eigenen Interessen gedacht, wie viele wahrscheinlich vermuten würden. Ganz oben auf ihrer Empfehlungsliste stand ein kostenfreies und gesundes Mittagessen für alle Kinder in Kindergärten und Schulen. Sie setzten sich auch damit auseinander, wie sich ein solches Angebot finanzieren lässt. Sie schlugen dazu vor, die nächste Erhöhung des Kindergelds nicht direkt an die Eltern weiterzugeben, sondern für das kostenfreie Mittagessen zu nutzen. Die Bürgerinnen und Bürgern haben insgesamt sehr differenzierte Antworten gegeben.
Ein Bürgerrat soll immer den Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Wie kann das gelingen?
Das A und O für einen Bürgerrat ist, dass er zufällig zusammengesetzt ist. Dafür werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bundesweit ausgelost, das Los kann also jeden treffen. Die ausgelosten Bürgerinnen und Bürger werden danach befragt, etwa zu ihrem Geschlecht, Bildungsgrad oder Wohnort, damit die Gruppe am Ende einen Querschnitt der Bevölkerung abbildet. Beim Bürgerrat zur Ernährung wurde zusätzlich noch nach den Ernährungsgewohnheiten gefragt. So sollte sichergestellt werden, dass nur zwei Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Veganer und zehn Prozent Vegetarier sind, weil dies dem Bevölkerungsanteil entspricht.
Welche konkreten Konsequenzen sollten sich aus den Empfehlungen eines Bürgerrats ergeben?
Das Wichtigste ist, dass die Bürgerinnen und Bürger von der Politik ernst genommen werden. Sie sollten deshalb zum Beispiel auf jeden Fall eine Rückmeldung bekommen: Welche Vorschläge wurden aufgegriffen, welche wurden verworfen und welche werden noch geprüft. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten aber nicht, dass alles eins zu eins umgesetzt wird.