„Die Würde der Sprache verteidigen“
Der russische Schriftsteller Michail Schischkin, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, redet im Interview über Sprache und Krieg.
Der Schriftsteller Michail Schischkin ist 1961 in Moskau geboren und lebt seit 1995 im Exil in der Schweiz. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Mitgründer des PEN Berlin. In diesem Jahr hält er als erster russischer Autor die bedeutende Schillerrede vor dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
Herr Schischkin, wie kamen Sie in Russland zu Ihrer Zuneigung für die deutsche Sprache?
In der Schule habe ich Deutsch gehasst. Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Alle wollten Englisch lernen und niemand Deutsch. Die Lehrer drohten: „Wenn du schlechte Noten hast, kommst du in die deutsche Gruppe!“ Ich hatte gute Noten, aber das Pech, dass meine Mutter unsere Schuldirektorin war. Sie sagte: „Mischa, ich weiß, du hast es verdient, in die englische Gruppe zu gehen, aber Du wirst trotzdem Deutsch lernen. Dann können mir die anderen Eltern nicht vorwerfen, ich hätte dich bevorzugt.“ Erst in der Abschlussklasse las ich Mein Name sei Gantenbein von Max Frisch in russischer Übersetzung. Ich war total überwältigt, denn bei uns war fast alles verboten, was für die Entwicklung der Literatur im 20. Jahrhundert wichtig war. Nicht einmal Nabokov oder Joyce wurden publiziert. Dank Max Frisch kamen die technischen Errungenschaften der westlichen Prosa wie durch einen Trichter in mich hinein. Ich habe dann Stiller im Original aufgetrieben und mit dem Wörterbuch gelesen. So begann meine Liebe zur deutschen Sprache, die bis heute anhält. Viel später übrigens wurde ich von Max Frisch enttäuscht, aber das hatte nichts mit der Sprache zu tun.
Sie veröffentlichen auch auf Deutsch, Ihre Prosa schreiben Sie aber ausschließlich auf Russisch. Welchen Unterschied macht es für einen Schriftsteller, in welcher Sprache er sich ausdrückt?
Die Kunst des Schreibens besteht in der Abweichung von der Norm. Die Prosa fängt da an, wo die Sprachregeln aufhören, deshalb schreibe ich meine Prosa nur in meiner Muttersprache. In einer Fremdsprache muss man richtig schreiben. Auf Deutsch schreibe ich Nonfiction, Essays, Artikel, da versuche ich meine Gedanken klar auszudrücken.
In Kriegen und Kriegserzählungen spielen Sprache und Kultur eine Rolle, als ein Gut, dass man vor Feinden verteidigt. Auch Bücher werden verboten. Wieso ist die Sprache etwas so Sensibles und gleichzeitig Mächtiges?
Das diktatorische Regime in Russland beansprucht das Monopol auf alles: das Territorium des Landes, seine Bevölkerung, seine Geschichte, seine Zukunft, seine Kultur, seine Sprache. Der Hauptfeind der russischen Kultur war und bleibt der russische Staat. All die Schriftsteller und Dichter, die versuchten, eine freie Literatur zu schaffen, waren schon deshalb Gegner des Regimes, weil sie ihm das Monopol auf die Sprache nehmen wollten. Putins „Ideologen“ setzen die russische Sprache als Waffe in einem totalen „hybriden Krieg“ gegen die ganze Welt ein: Wo immer Russisch gesprochen wird, da seien unsere Untertanen, unsere Macht und damit unser Territorium. Der Schriftsteller solle nach ihren Vorstellungen patriotische Lieder singen und den Lesern erklären, dass überall blutrünstige Feinde lauern und unser Glück darin besteht, im Kampf fürs Vaterland (gemeint ist das Regime im Kreml) zu sterben. Und wenn man versucht, auf Russisch zu schreiben und gleichzeitig seine Menschenwürde zu bewahren, wird alles früher oder später für den Autor böse enden. Deshalb ist die Emigration, wenn sie noch möglich ist, nicht nur eine Geiselflucht, sondern auch ein Akt des Widerstands. Und die Verantwortung, eine freie Kultur in russischer Sprache zu bewahren und zu entwickeln.
Sie sprechen von einer Art Schamgefühl gegenüber der eigenen Sprache. Gleichzeitig ist die Sprache Ihr alltäglichstes Werkzeug. Wie kommen Sie mit diesem Spannungsfeld zurecht?
Die Sprache ist mein Kampffeld. Russisch und die russische Kultur gehört nicht Putin und seinen Henkershelfern. Die Kultur ist die Existenzform der menschlichen Würde. Thomas Mann hat die Würde der deutschen Sprache und der deutschen Kultur gegen die Nazis im Exil verteidigt. Nun müssen wir, russische Kulturschaffende, die Würde unserer Sprache und unserer Kultur verteidigen.
Wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages zu Ende sein wird, schreiben Sie, dass die ersten Brückenbauer Menschen der Kultur sein werden. Wieso ist Kultur und konkret das Wörtliche hier das Mittel der Stunde?
Wenn der Krieg beginnt, erleidet die Literatur immer eine Niederlage. Bücher sind hilflos gegen Gewehre und Raketen. Alle meine Bücher oder die Bücher, die meine Kollegen und Kolleginnen in den letzten 20 Jahren geschrieben haben, haben diese Tragödie, in der wir uns jetzt befinden, nicht verhindern können. Im Krieg braucht man Geschosse und Raketen, keine Romane. Aber jeder Krieg geht früher oder später zu Ende. Und dann brauchen wir Kultur, Literatur. Zwischen der Ukraine und Russland entstand ein großer Graben, gefüllt mit Tod, Schmerz und Hass. Und mit jeder Rakete, die in Wohnhäuser einschlägt, wird dieser Abgrund nur noch größer. Nach dem Krieg wird es notwendig sein, Brücken über diesen Abgrund zu bauen. Ich bin sicher, dass Schriftsteller, Künstler, Musiker die ersten sein werden, die diese Brücke bauen. Gegen den Hass ist die Kultur die Medizin. Für diese zukünftige Brücke ist es wichtig, die Würde der Kultur in der russischen Sprache jetzt zu bewahren.
Was bedeutete es für Sie, die diesjährige Schillerrede zu halten?
Vor allem bedeutet das für mich eine große Verantwortung. Ich bin der erste Autor sowohl aus Russland als auch aus der Schweiz, der diese Ehre hat, in Marbach die Schillerrede zu halten. Auch eine große Freude, seine Werke nochmals – nicht als Schüler, sondern nach allem Erlebten – zu lesen. Es ist erstaunlich, wie aktuell Schiller jetzt, nach 200 Jahren, ist. Das können nur Klassiker.
Mit der Schillerrede wird jährlich an den Geburtstag des deutschen Dichters Friedrich Schiller (1759-1805) erinnert. Seit Begründung der Veranstaltung im Jahr 1999 sprechen Personen aus Kultur, Wissenschaft und Politik im Geiste des Freiheitsdenkers über Themen ihrer Wahl. Bislang standen unter anderem der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnh sowie der Ägyptologe Jan Assmann am Rednerpult. Die viel beachtete Veranstaltung setzt oftmals einen Impuls in gesellschaftlichen Debatten.