„Hilfsorganisationen leisten weltweit Enormes“
Nothilfe-Experte Ralf Südhoff spricht im Interview über Chancen und Möglichkeiten von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit.
Deutschland hat 2022 etwa 33,3 Milliarden Euro für Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben, davon kamen rund 2,2 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe aus öffentlichen Mitteln. Welches der beiden Felder ist wichtiger?
Keine der beiden Hilfen ist wichtiger als die andere, die entscheidende Frage ist eher: Wann ist welche Hilfe am wichtigsten? Denn die Mittel werden immer begrenzter sein als die Not und die Bedarfe weltweit. Dies ist auch aktuell eine zentrale Frage, denn die akute Not hat rasant zugenommen in den letzten 20 Jahren: Über 300 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, wofür 2024 mehr als 50 Milliarden US-Dollar nötig wären, die laut Prognosen aber weit verfehlt werden. Anfang der 2000er Jahre reichten noch 2 bis 3 Milliarden US-Dollar aus, allen Menschen in größter Not zu helfen. Daher müssen in der Tat auch Hilfsorganisation schreckliche Entscheidungen treffen: Für welche Menschen setzen wir unsere knappen humanitären Mittel ein, für Hungernde am Horn von Afrika, für Kriegsopfer in der Ukraine oder für Vertriebene in Syrien? Und wieviel Mittel entnehmen wir längerfristigen Entwicklungsprogrammen, um zunächst Leben zu retten – verhindern damit aber zum Beispiel die Ausbildung von Kindern, die dann absehbar die nächste Welle der Armen werden, welche bald erneut Nothilfe braucht? Tatsächlich geben die meisten Länder trotz dieser sich rasant verstärkenden Zielkonflikte weiterhin weit weniger Geld für die Nothilfe aus als für Entwicklung, im Schnitt nur etwa 15 Prozent ihrer gesamten Hilfen. In Deutschland sind es etwa 10 Prozent.
Der Erfolg von humanitärer Hilfe lässt sich messen: Wer hungert, bekommt durch Nothilfe wenigstens etwas. Lässt sich auch der Erfolg von Entwicklungszusammenarbeit beziffern?
Prinzipiell ja, und die Ergebnisse sind teils viel positiver, als wir gemeinhin vermuten: Weltweit hat die Armut in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen, die Lebenserwartung als Indikator für zahlreiche Faktoren wie Gesundheit, Ernährung, Wohlstand hat zugenommen, zudem sterben viel weniger Kinder unter fünf Jahren oder Mütter bei der Geburt. Die Herausforderung ist zu bemessen, welchen Anteil die Entwicklungshilfe hieran hatte, da Faktoren wie etwa Wirtschaftswachstum oder Regierungsführung auch eine große Rolle spielen. Das gilt aber ebenso umgekehrt: Oftmals wird der Sinn von Entwicklungshilfe in Frage gestellt, wenn es etwa am Horn von Afrika zu Hungersnöten oder zu massiven Rückschlägen im Zuge der Corona-Pandemie kommt. Dass dies aber wenig mit der Wirksamkeit der Hilfe und mehr mit ihren Rahmenbedingungen, wie dem menschengemachten Klimawandel oder unserem globalen Management von Seuchen und Impfstoffen, zu tun hat, liegt auf der Hand. Die auch finanziell nicht sehr hohe Entwicklungshilfe kann immer nur ein Faktor sein, und oftmals nur einer, der Fehlentwicklungen etwas lindert.
Nach Notsituationen mündet humanitäre Hilfe häufig in Entwicklungszusammenarbeit. Umgekehrt kann es nötig sein, Nothilfe in Ländern zu leisten, in denen Entwicklungsprojekte laufen. Funktionieren diese Übergänge?
Nicht so, wie sie sollten – die Frage einer guten Verbindung zwischen Nothilfe und Entwicklungshilfe beschäftigt Hilfsorganisationen wie Regierungen seit Jahrzehnten, siehe auch in Deutschland die wiederkehrenden Diskussionen, ob das Entwicklungsministerium und das für Nothilfe zuständige Außenministerium zusammengelegt werden sollten.
In der Entwicklungszusammenarbeit, vor allem aber in der Nothilfe, spielen Nichtregierungsorganisationen eine sehr wichtige Rolle. Funktioniert die Kooperation zwischen den verschiedenen Akteuren?
Auch dies klappt sehr unterschiedlich, aus ganz verschiedenen Gründen: Teils mangelt es schlicht an Koordination, weil Zeit und Ressourcen für Treffen fehlen. Teils stehen handfeste Interessen dem entgegen. Beispielsweise ist es Konsens, dass viel mehr Hilfe von lokalen Organisationen vor Ort geleistet werden sollte, da sie sich besser auskennen, wirksamer arbeiten können und oft besseren Zugang haben. Hier fällt es aber vielen internationalen Hilfsorganisationen enorm schwer, etwas vom Kuchen abzugeben, denn es geht natürlich um viel Geld und Arbeitsplätze. Dennoch muss man klar festhalten: Hilfsorganisationen leisten weltweit Enormes, und das in extrem herausfordernden Kriegsgebieten, bei Naturkatastrophen und oft verbunden mit hohen persönlichen Risiken. Ziel muss es sein, die Hilfe noch besser und effektiver zu machen – gerade, weil sie heute wichtiger ist denn je.
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Ralf Südhoff ist Direktor des CHA Centre für Humanitarian Action in Berlin. Das CHA ist eine Initiative humanitärer Nichtregierungsorganisationen, die die Nothilfe aus Deutschland wie auch international stärken wollen.