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„Wir werden Goethe nie abschließend interpretieren“

Charlotte Lee von der University of Cambridge erklärt im Interview, warum der große Dichter aktuell ist und es  auch immer bleiben wird. 

21.08.2024
Forever young? Jedenfalls immer modern: Andy Warhols Goethe
Forever young? Jedenfalls immer modern: Andy Warhols Goethe © picture alliance / dpa

Dr. Lee, Johann Wolfgang Goethe wurde vor 275 Jahren geboren. Ist der deutsche Schriftsteller heute noch aktuell?
Auf jeden Fall! Goethe hatte eine erstaunlich reiche Vorstellungskraft, und es gibt kaum einen Bereich der menschlichen Erfahrung und der menschlichen Psychologie, über den er nicht nachgedacht hat. Sein Werk ist voller Geschichten über Liebe, Sehnsucht, Hoffnung, Verlust, religiöse Herausforderungen und Reibungen zwischen den sozialen Klassen. Auch seine Sprache ist erstaunlich: nicht einfach, gerade für eine Nicht-Muttersprachlerin wie mich, aber voller herrlicher Rhythmen und Bilder.  

Ein Schriftsteller muss nicht die heutigen Probleme vorwegnehmen, um für uns relevant zu sein, aber Goethe tut es. Ihm war zum Beispiel sehr bewusst, wie der Mensch die empfindlichen natürlichen Ökosysteme verändert. In seinen Werken setzte er sich offen mit der Sexualität auseinander, oft in einer Weise, die die Normen seiner Zeit in Frage stellte. Er war nicht fortschrittsfeindlich, aber doch sehr skeptisch gegenüber der Unruhe und der „Beschleunigung“, die bereits Teil des modernen Lebens wurden: die aus seiner Sicht außer Kontrolle geratene Kommunikation und eine rastlose Ökonomie. 
 

Charlotte Lee von der University of Cambridge
Charlotte Lee von der University of Cambridge © privat


In Deutschland ist Goethe immer noch der mit Abstand bekannteste Schriftsteller. Sie lehren in Cambridge: Welche internationale Bedeutung hat Goethe?
Goethe selbst war sehr international orientiert. Er hat nur eine Handvoll Länder besucht, sich aber von vielen Kulturen inspirieren lassen: Sein West-Östlicher Diwan etwa ist eine Hommage an den persischen Dichter Hafez aus dem 14. Jahrhundert. Die Gedichte „Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten“ war von der klassischen chinesischen Literatur beeinflusst. Goethe ist heute in Iran gut bekannt, und in China bereiten Wissenschaftler die erste Übersetzung seines Gesamtwerks vor, die Hunderte Bände umfassen wird!  

Es gibt immer wieder neue Forschungsprojekte, auch in der englischsprachigen Welt. Einer meiner Favoriten ist dieses Wörterbuch, das anhand einzelner Wörter erklären will, wie Goethe dachte: https://goethe-lexicon.pitt.edu/GL . Hier in Cambridge lesen unsere Studierenden im ersten Jahr Faust. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich daran denke, dass Goethe erst 25 Jahre alt war – nicht viel älter als diese Studenten – als er 1774 den ersten Entwurf des Faust schrieb. 
 

Goethe aktuell: Das Graffiti am Lottehaus in Wetzlar zeigt den Dichter mit Charlotte Buff.
Goethe aktuell: Das Graffiti am Lottehaus in Wetzlar zeigt den Dichter mit Charlotte Buff. © picture alliance / imageBROKER


Seit Goethes Tod im Jahr 1832 haben sich Generationen von Gelehrten mit seinem Werk beschäftigt. Gibt es da noch etwas zu erforschen?
Ja, natürlich! Jeder Leser wird jede Gedichtzeile etwas anders erleben, und Goethes Werk ist so klug, dass es sich immer wieder erneuern wird. Noch einmal zu seiner Vorstellungskraft: Er hat in seinem Werk so viele Szenarien entworfen und war auf so vielen verschiedenen Gebieten aktiv – in der Wissenschaft und der Kunst ebenso wie in der Literatur –, dass wir ihn niemals abschließend interpretieren können. Jede Generation wird andere Anliegen und Denkweisen mitbringen, und sein Werk wird sich dieser Herausforderung immer stellen können. 

 

Hast du schon ein Werk von Goethe gelesen?
Nein, gar nicht. Eher Nein Neutral Eher Ja Ja, auf jeden Fall!
Nein, gar nicht. Ja, auf jeden Fall!

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Eine persönliche Frage: Haben Sie ein Lieblingszitat von Goethe?
Darf ich zwei nennen? Eines meiner Lieblingsgedichte ist „Vermächtnis“, in dem es die schöne Zeile gibt:  

„Am Sein erhalte dich beglückt – Freue dich, am Sein erhalte dich.“  

Ich bin auch immer wieder von einem Moment in „Hermann und Dorothea“ gerührt. Dorothea – die in Kriegszeiten bereits großen Mut bewiesen hat – stellt sich dem Vater des Mannes entgegen, den sie liebt und den sie zu verlieren glaubt:  

„Ist es edel, mich gleich mit solchem Spotte zu treffen 
Der auf der Schwelle beinah mich schon aus dem Hause zurücktreibt?“ 

 

Dr. Charlotte Lee leitet die Sektion Germanistik an der University of Cambridge.